Meine Bücher verkaufen sich gut, das hätte ich gar nicht so erwartet und irgendwann hatte ich als Autorin mein bescheidenes Auskommen, solange ich weiter schreibe und meine Abgabetermine einhalte. So wie jetzt. Meine Verlegerin wartet dringend auf das nächste Kapitel. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Nicht nach diesem Morgen, dieser Begegnung mit meiner Vergangenheit und irgendwie auch immer noch Gegenwart. Nur noch eine Woche bis zum Abgabetermin. Ich habe mir diese letzte Woche extra komplett freigeschaufelt um keinerlei Ablenkung zu haben und mich ganz dem Schreiben widmen zu können. Und jetzt? Na toll, denke ich und fange an, mich statt zu schreiben, dem dringend nötigen Hausputz zu widmen. Vielleicht kann ich mich durch Fenster putzen und Bäder schrubben so weit auspowern, dass ich ihn endlich aus meinen Gedanken verbannen kann. Vielleicht schaffe ich es auch später noch ein paar Seiten an meinem Thriller weiterzuschreiben. Aber ich kann mir selbst nichts vormachen. Immer wieder sehe ich sein schönes Gesicht vor mir, spüre seine Hand auf meinem Arm und das Kribbeln, das mich bei dieser Berührung durchlief.
Ich darf ihn nicht wiedersehen, schießt es mir durch den Kopf.
Reiß dich zusammen, Annie, du wirst ihn nicht wiedersehen! Mach dir nichts vor, sage ich mir immer wieder. Es war ein Zufall, dass ich ausgerechnet IHN im Coffeeshop über den Haufen gerannt habe. Er ist bestimmt nur auf Stippvisite hier in der Stadt. Es ist schließlich Freitag und viele Leute kommen über das Wochenende aus der Stadt hierher, um auszuspannen und an den Strand zu gehen. Und nach meiner glorreichen Reaktion auf ihn und meiner Weigerung ihn zu erkennen, wird er sowieso beim nächsten Mal einen großen Bogen um mich machen. Warum sollte ein Mann wie er auch noch einmal jemanden ansprechen, der ihn angeblich nicht mehr kennt. Aber warum hat er mich angesprochen? Ich verstehe meine kleine Welt nicht mehr.
Als mir auffällt, dass ich seit fast zehn Minuten meinen Küchentisch abwische, packe ich die Putzsachen weg und setze mich an den Schreibtisch, versuche doch noch ein wenig zu arbeiten. Aber ich starre nur auf den Bildschirm und mein Kopf ist überall, bloß nicht bei meinem Buch.
Okay, Zeit zum Abendessen, stelle ich fest, als ich auf die Uhr sehe. Wieso ist es eigentlich schon Abend und wo ist dieser Tag geblieben? Ich mache mir etwas zu essen und setze mich mit meinem Teller auf die Couch - Fernseher an und Nachrichten schauen. Ich bekomme nichts mit. Nach dem vergeblichen Versuch noch einem Film zu folgen, schalte ich den Fernseher aus und gehe früh ins Bett. Wann stand ich eigentlich das letzte Mal so neben mir, wie heute?
Erstaunlicherweise erwache ich am nächsten Tag ausgeschlafen und gut gelaunt. Ich konnte tatsächlich schlafen. Allerdings habe ich das diffuse Gefühl, ich hätte von ihm geträumt. Aber der Traum ist nicht greifbar. Vielleicht bin ich ihm gestern gar nicht begegnet? Wahrscheinlich war das mein Traum, unser Zusammenstoß im Coffeeshop. Ich mache mir einen Kaffee und springe schnell unter die Dusche. Nicht weiter darüber nachdenken, heute schreibe ich, nehme ich mir ganz fest vor, obwohl ich genau weiß, dass das gestern kein Traum war. Er war real, genau wie seine Berührung. Ich setze mich mit meinem Kaffee an den Laptop und schaffe es, jeden Gedanken an ihn zu verbannen.
Fünf Stunden später habe ich ein gutes Stück des neuen Kapitels geschafft. Wenn ich so weiterschreibe brauche ich gar nicht mehr diese ganze Woche, um es fertigzustellen. Ich speichere die Dateien ab. Draußen lacht die Sonne wieder vom strahlendblauen Himmel bei angenehmen 25 Grad. Das muss ich ausnutzen. Shopping? Oder Strand? Gesellschaft? Oder allein? In Erinnerung dessen, was gestern in der Stadt passiert ist, entscheide ich mich für Strand. Allein. Nur für den Fall, dass die zufällige Begegnung gestern doch kein Traum war, für eine weitere wäre ich definitiv noch nicht bereit. Ich schlüpfe in meinen hellgrünen Bikini und mache mich mit einem guten Liebesroman – ja, ich schreibe Thriller und lese lieber Liebesromane – auf den Weg zu der kleinen Bucht neben meinem Haus. Zum
Glück ist es dort einsam und verlassen, weil sie versteckt und abseits der Touristenströme liegt. Nachdem ich mich im flachen Wasser etwas abgekühlt habe, lege ich mich in die Sonne und vertiefe mich in die romantische Geschichte. Schade, dass es so etwas nur im Buch gibt, denke ich noch.
Auf einmal ist er da. Mit nacktem Oberkörper liegt er neben mir auf der Seite. Seine Hand streicht mir über die Wange und dann weiter nach unten bis zu meiner Taille. „Annie …“ Er beugt sich über mich und küsst mich ganz sanft. Mein Bauch fängt an zu kribbeln, der Kuss ist so schön, ich will mehr …
Ich muss eingeschlafen sein. Durch meine geschlossenen Augenlider merke ich, dass die Sonne verschwunden ist. Es ist kühl geworden. Nur langsam komme ich zu mir, verlasse diesen wunderbaren Traum und öffne die Augen. Die Sonne geht allmählich unter, es ist anscheinend schon Abend. Noch ganz befangen vom Schlaf, stehe ich auf und gehe zurück.
Das restliche Wochenende komme ich mir vor wie ein Schlafwandler. Alles, was ich mache, geschieht automatisch, ohne nachzudenken. Ich esse, schreibe und schlafe.
Am Montagmorgen klingelt mein Wecker wieder um sieben und ich nehme meine Wochentagroutine wieder auf. Aufstehen, duschen, anziehen, kleines Frühstück. Um acht Uhr sitze ich wie jeden Tag unter der Woche in meinem Auto auf dem Weg zum Coffeeshop, um koffeingestärkt im Supermarkt einkaufen zu gehen. Als ich mein Auto um die Ecke vom Coffeeshop abstelle, zögere ich kurz. Die Erinnerung an meinen letzten Besuch hier am Freitag lässt sich nicht verdrängen. Ich versuche mir einzureden, dass er bestimmt schon wieder zurück in Boston ist, in meinem Kopf war er ja nur ein Wochenendtourist.
Trotzdem sehe ich mich genauer um, als ich auf den Coffeeshop zugehe, kann ihn aber natürlich nirgendwo entdecken. Mit meinem Caramellatte in der Hand trete ich den Rückweg an – und bleibe mitten in der Tür wie angewurzelt stehen. Da, gegenüber des Ladens, an die Mauer zum Hafen gelehnt, steht er. Von Ferne merke ich, wie ich angerempelt werde und sich jemand an mir vorbeidrängelt. Automatisch mache ich einen Schritt zur Seite, aus der Tür heraus, während ich ihn mit offenem Mund anstarre und mein Gehirn versucht, diesen Schock zu verarbeiten.
Seine Haare sind vom Wind leicht zerzaust, sein Kinn ziert ein Dreitagebart, was ihn irgendwie gefährlich aussehen lässt, aber auch unglaublich sexy. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, sodass ich befürchte, er könnte es hören. Statt der Cargohose von Freitag trägt er heute eine Jeans, die sich eng an seine muskulösen Oberschenkel schmiegt. Er sieht umwerfend aus. Und er sieht mich die ganze Zeit an, während ich hier stehe wie festgewachsen. Langsam stößt er sich von der Mauer ab und kommt auf mich zu. Meine Beine lösen sich wie von selbst aus ihrer Starre, ich werde wie magnetisch von ihm angezogen. Am Rand der Promenade bleiben wir voreinander stehen. Ich kann mal wieder nichts sagen, mein Kopf ist leergefegt und ich habe das Gefühl, ich bekomme nicht genug Luft.
„Was machst du hier?“, krächze ich.
„Ich wollte dich sehen und mich bei dir entschuldigen. Ich habe gehofft, dass dieser Laden eine Regelmäßigkeit für dich ist. Und bevor du wieder vor mir wegläufst, ich weiß, dass du mich am Freitag auch erkannt hast, Annie. Es tut mir leid, dass dich mein Anblick so erschreckt hat, aber als ich dich in dem Coffeeshop sah, musste ich dich einfach ansprechen.“
„Warum?“, frage ich atemlos.
„Gute Frage …!“, sagt er und fährt sich mit der Hand durch die Haare, als wäre er selber ratlos.
„Es ist mir noch nicht oft passiert, dass Frauen vor mir weglaufen. Und du sogar gleich zweimal“, lacht er leise und spielt damit auf unsere Nacht vor vier Jahren an.
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