Alles, aber auch alles ist ergebnislos geblieben. Die Beamten Kollunds haben Männer genug ringsum in Dänemark aufgestöbert, deren Äußeres dem Signalement des angeblichen Larsen entsprach. Alle jedoch vermochten ein einwandfreies Alibi beizubringen, oder sie kamen ihrer ganzen Persönlichkeit nach nicht in Betracht, oder Frau Jespersen und ihre Hausangestellte erklärten bei der Gegenüberstellung, die Betreffenden seien nicht identisch mit dem Mann in Ingrid Steegs Begleitung.
Eine besondere Hoffnung hatte Kollund auf das Vitriol gesetzt. Die Drogerien und Apotheken in Kopenhagen, in der Provinz, selbst jenseits des Sundes von Malmö bis Göteborg sind durchgekämmt worden. Nirgends ist man auf die Spur einer Person gestoßen, die Vitriol bezogen hat und auch nur entfernt mit dem Mörder verglichen werden konnte.
Denunziationen sind eingelaufen. Ein paar Tage lang hat Kollund sogar aufatmend geglaubt, den Faden in der Hand zu halten. Eine der Polizei wohlbekannte Frauensperson aus dem Nörrebroviertel hat behauptet, einer ihrer früheren Bekannten, ein gewisser Jens Skovgaard, besser unter dem Spitznamen „Casanova“ bekannt, habe den Mord begangen und sei seither verschwunden. In der Tat, dieser „Casanova“ kam in Betracht. Er war schon Mitte der Vierzig, jedoch ein gut und solide aussehender Bursche, gewandt und von guten Formen, der schon oft auf jüngere Mädchen einen unheilvollen Einfluß ausgeübt hatte. Er war mehrfach wegen Heiratsschwindeleien vorbestraft, und einige seiner Opfer hatten sogar sehr guten Kreisen angehört. Auch wegen eines Sittlichkeitsdeliktes war er bereits bestraft. Vor allem aber: Dieser „Casanova“ war tatsächlich verschwunden. Nirgends in Dänemark vermochte man ihn festzustellen. Die Polizei schien endlich den Faden in der Hand zu halten. Dann aber war der Tag gekommen, an dem Inspektor Kollund aus München die niederschmetternde Nachricht erhielt, daß der dänische Staatsangehörige Jens Skovgaard, alias Casanova, wegen mehrerer Betrügereien und Schwindeleien im Gefängnis zu Weilheim saß, und zwar schon seit vier Monaten. Die Denunziantin, scharf ins Verhör genommen, gestand denn auch ein, daß sie ihrem früheren Freunde „Casanova“, der sie schmählich hatte sitzenlassen, nur aus Rache „eins auswischen wollte“.
Lange hatte Inspektor Kollund sich an die Geschichte mit der Erbschaft des Mr. F. O. Andrige geklammert. Aber auch hier führte nichts zu dem Mord an Ingrid Steeg hin. Die Angaben des Professors Frydendal haben sich in jeder Beziehung als richtig erwiesen. Ingrid Steeg hat nichts von der ihr bevorstehenden großen Erbschaft gewußt und also auch niemand davon erzählen können.
Diese Ingrid Steeg! — Kollund sucht aus dem Aktenband die Photographie der Ermordeten heraus, ein Bild, das erst wenige Wochen vor dem gräßlichen Ereignis aufgenommen worden war, und betrachtet es lange. Das Bild eines schlanken, frischen Mädels. Keine ausgesprochene Schönheit, aber doch anziehend und hübsch. Mutwillig sich um Stirn und Schläfen ringelndes Blondhaar, die schlanken, festen Linien eines sportlich trainierten Körpers, klare, lustig dreinblickende Augen. Nur der Mund paßt nicht ganz zu diesem Bild unbeschwerter Jugend. Um den Mädchenmund liegt ein herber, willensstarker Zug. Kein Zweifel, Ingrid Steeg war imstande gewesen, ihren Willen durchzusetzen. Auf den Mordfall angewandt hieß das: Ingrid Steeg war bestimmt kein Mädel, das sich von irgendeinem Mann beschwatzen ließ, ihm zu folgen. Darin hatte der junge Frydendal schon recht: Es lag ein Geheimnis dahinter, wie Ingrid Steeg in später Abendstunde mit einem Manne in das Fremdenheim Jespersen gehen konnte, um dort zu übernachten.
Wenn sie wirklich die Ermordete war!
Denn das war jetzt der Kardinalpunkt des ganzen Falles. Da, auf dem Schreibtisch, noch uneingeheftet, liegen die Briefe. Der geheimnisvolle Brief aus Neuyork, frühere Briefe Ingrids, die Professor Frydendal vorsorglich zum Vergleich mitgebracht hat. Dicht daneben liegt das ausführliche Gutachten des Schriftsachverständigen, der sofort den Neuyorker Brief einer eingehenden Untersuchung unterzogen hat. Kollund greift noch einmal danach und liest es nachdenklich.
„Die mir übergebenen Schriftproben der Ingrid Steeg und des mit ‚Ingrid‘ unterzeichneten Neuyorker Briefes stimmen in allen wesentlichen Merkmalen überein. Beide zeigen in Raumverteilung, Druckbetonung und Buchstabenbildung eine ungewöhnliche Ähnlichkeit. Die Anbringung der Interpunktionszeichen ist in beiden Schriftproben die gleiche, ebenso die typische ‚d‘-Bildung sowie die Neigung, den letzten Bindestrich von ‚n‘ und ‚m‘ linksschräg zu stellen und unter die Zeile zu ziehen.
Das gleiche gilt für den Arkadenduktus. Die Flüssigkeit der Schrift widerspricht der Vermutung, daß es sich bei dem Neuyorker Brief um eine Fälschung oder eine verstellte Handschrift handelt. Alle Anzeichen für eine absichtliche Schriftverstellung fehlen.
Entscheidend ist für mich der Buchstabe ‚g‘. In den Briefen der Ingrid Steeg erscheint die Schleife des Buchstaben ‚g‘ in der normalen Schrift fast durchweg völlig vernachlässigt. In zwei Fällen (innerhalb von fünf verschiedenen Briefen) weist jedoch das ‚g‘ eine ausgesprochene Schleife auf. Auch in dem Neuyorker Brief findet sich das gleiche Symptom. Das ‚g‘ ist nur einmal mit Schleife geschrieben, sonst durchweg ohne. Beide Schreiber haben also die wahrscheinlich unbewußte Angewohnheit, den Buchstaben ‚g‘ ab und zu mit einer Schleife zu versehen. Unbedingt zu folgern ist daraus, daß der Schreiber des Neuyorker Briefes zum mindesten die Schrift der Ingrid Steeg ungewöhnlich genau kennen muß und ihm nicht etwa nur eine einzelne Schriftprobe zur Nachahmung vorgelegen haben kann.
Da jedoch in dem Neuyorker Brief alle typischen Fälschungsanzeichen fehlen, komme ich zu der Überzeugung, daß sowohl dieser Brief wie die Briefe der Ingrid Steeg von ein und derselben Person geschrieben sein müssen.
Das Gegenteil müßte das Werk einer geradezu genialen Nachahmungskunst sein, wie sie die Erfahrungen der Graphologie bisher nicht kennt.
Dr. Sjömod,
vereidigter Sachverständiger.“
Inspektor Kollund läßt das Schriftstück langsam sinken und blickt fragend auf. Assistent Nörholm hat die Tür des Nebenzimmers geöffnet.
„Herr Professor Frydendal und sein Sohn sind draußen.“
„Gut, Nörholm. Lassen Sie die Herrschaften rein.“
Professor Frydendal, ein Mann, dessen aufrechter Haltung man die Jahre nicht ansieht, nimmt etwas hastig auf dem angebotenen Stuhl Platz und fährt sich nervös mit dem Zeigefinger in den Kragen. „Es ließ mir keine Ruhe, Herr Kollund. Haben Sie den Brief schon prüfen lassen? Sie sagten ...“
Ein bestätigendes Nicken macht die weiteren Worte unnötig. Kollund blickt noch eine volle Minute grübelnd auf die Schriftstücke, die vor ihm liegen, hebt dann den klaren, ruhigen Blick zu dem Besucher.
„Damit wir uns recht verstehen, Professor — diese Briefe hier, die alten, die Sie mir brachten, hat also unzweifelhaft Ingrid Steeg geschrieben?“
„Ich verstehe nicht ... Natürlich sind das Ingrids Briefe.“
„Ich meine, eine Verwechslung kann da nicht vorliegen?“
„Wie sollte denn das möglich sein? Sehen Sie, das hier — das ist ein Brief, den Ingrid an uns geschrieben hat, als sie in Ollerup auf dem Gymnastikkursus war. Es steht auch noch ein Gruß von meinem Sohn Anker darunter, wie Sie sehen.“
„Jawohl“, fällt Anker rasch ein. „Ich kann sogar bezeugen, daß Ingrid diesen Brief in meiner Gegenwart geschrieben hat.“
„Das genügt allerdings. Wir haben ja auch die Schriftproben aus dem bei der Leiche gefundenen blauen Merkbuch Ingrid Steegs zum Vergleich. Ich fragte nur, um jeden Irrtum auszuschließen. Ja, hm — demnach ...“ Kollund macht eine kleine Pause und sieht den Professor unverwandt an. „Das Gutachten des Sachverständigen liegt vor. Es lautet dahin, daß Ingrid Steeg wirklich die Schreiberin des Neuyorker Briefes ist.“
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