„Nein, weiß der Himmel, das kann ich nicht!“
„Hat sie jemals von Amerika gesprochen? Mit jemand drüben Briefe gewechselt? Eine Vorliebe für dortige Verhältnisse gehabt?“
Anker schüttelt verzweifelt den Kopf. „Nein, nichts von alledem, Herr Inspektor. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum Ingrid nach Neuyork gereist sein sollte! Noch dazu in solcher Heimlichkeit. Wenn sie unbedingt eine Reise machen wollte, hätte sie es uns doch sagen können!“
„Sehen Sie“, atmet Kollund auf, „das ist der Haken. Und darum glaube ich nicht daran, daß dieser geheimnisvolle Brief von Ingrid Steeg stammt.“
„Sie meinen, daß Ingrid nicht —?“
„Ich meine nach wie vor, mein junger Freund, daß Ingrid Steeg in ihrem Grabe der ewigen Ruhe entgegenschläft. Aber vielleicht kann uns dieser merkwürdige Brief auf irgendeine Spur des Mörders bringen. Nun, wir wollen abwarten, bis wir das Objekt hier haben und unter die Lupe nehmen können. Fräulein Bendixen, verbinden Sie mich mal gleich mit dem Erkennungsdienst und dann mit dem Graphologen Doktor Sjömod. Rufen Sie auch mal Nörholm an. Er wird im Sekretariat sein. Soll mir gleich die Akten Steeg herbringen. Was Sie anbelangt, Herr Frydendal, - fühlen Sie sich wieder gekräftigt?“
„Ja, danke. Ich war nur vorhin — es nahm mich sehr mit. Aber jetzt fühle ich mich ganz wohl.“
„Dann haben Sie die Freundlichkeit, draußen auf dem Flur noch etwas zu warten, bis Ihr Vater kommt. Ich muß jetzt noch einiges —“
Mit einer kleinen Verbeugung, noch immer völlig wirr im Kopf, verabschiedet sich Anker Frydendal. Die Sekretärin spricht bereits im Fernsprecher mit dem Erkennungsdienst.
Inspektor Kollund ruft von seinem Büro aus seine Frau an.
„Hallo, Dagmar? Tut mir leid, aber heute komme ich wieder mal nicht zum Mittagtisch nach Hause. Nein, unmöglich. Ich muß schon hierbleiben. Auch heute abend wird’s wahrscheinlich spät werden. Ja, schade, sehr schade um die Frikadellen. Weißt du was, heb mir ein paar davon auf. Ich eß sie kalt, wenn ich heut abend heimkomme. Geht wirklich nicht anders, mein Lieb. Wie, bitte? Nein, nein, ich bleibe hier im Büro und laß mir aus der Kantine etwas zu essen holen. Was los ist? Du weißt doch, so was kann ich dir am Fernsprecher nicht erzählen. Du meinst ...? Ja, hast richtig geraten. Der Fall ist es. Auf Wiedersehen also.“
Mittagspause. Fräulein Bendixen, die Sekretärin, ist zum Mittagessen gegangen. Assistent Nörholm ist unterwegs. Die meisten Beamten vom Innendienst sind in der Kantine oder auf einen Sprung nach Hause. Nur der wachthabende Kriminalbeamte sitzt im Vorzimmer und teilt seine Aufmerksamkeit zwischen einem vor ihm liegenden Bericht und einer halben Flasche Carlsberger.
Inspektor Kollund rückt sich in seinem Stuhl zurecht und greift nach dem Aktenband, den Nörholm vor seinem Weggang auf den Schreibtisch gelegt hat. Mordsache Steeg. Bericht der Mordkommission. Fotos vom Tatort. Gutachten der Ärzte und Sachverständigen. Ermittlungsberichte. Vernehmungsprotokolle. Meldungen. Dienstliche Anordnungen. Der Steckbrief gegen Christian Larsen. Sorgfältig registrierte Fingerabdrücke, mit Anmerkungen des Erkennungsdienstes versehen. Alles ist gut und reichlich geordnet. Nichts fehlt, — nichts, als die Spur des Mörders.
Es ist ja leider nicht das erstemal, daß die Polizei vor einem Rätsel steht, aber noch nie hat Kollund die Unzulänglichkeit des menschlichen Hirns und aller menschlichen Maßnahmen so bitter empfunden wie in diesem Fall. Denn noch nie hat ein Fall die Gemüter so aufgeregt wie der Mord an Ingrid Steeg. Dänemark ist ein kleines Land. Kopenhagen, obwohl Großstadt, besitzt zum Glück keine Gangsterbanden oder ähnliche Errungenschaften der Zivilisation. Die „Kunden“ der Polizei sind allesamt bekannt, und meistens weiß man ziemlich genau, wo sie sich gerade befinden. Es sind nur wenige darunter, denen man überhaupt einen Mord zutrauen könnte, und schwere Jungens aus dem Ausland verlaufen sich selten hierher. Kopenhagen ist kein London oder Neuyork, in dem man unauffindbar untertauchen kann, und die Grenzen sind leicht zu überwachen.
Solange Kollund im Amt ist, hat sich in „des Königs Kopenhagen“ kein Fall ereignet, in dem einer der einheimischen Verbrechergilde einen Mord begangen hätte. Wohl kommen von Zeit zu Zeit solche Kapitalverbrechen vor. Aber dann handelt es sich stets um Tragödien, die sich außerhalb der bekannten beruflichen Verbrecherwelt abgespielt haben. Mord aus persönlichem Haß, Versicherungsmord, Mord aus Eifersucht, Lustmord, Verbrechen, bei denen sich die Fahndung sofort auf einen kleinen Personenkreis beschränken kann, Fälle, die durch die Ergreifung des Täters rasch und restlos aufgeklärt werden.
Keiner dieser früheren Fälle hat jedoch ein solches Aufsehen erregt wie die Ermordung Ingrid Steegs. Ein zwanzigjähriges junges Mädchen, Pflegetochter eines bekannten und angesehenen Kopenhagener Gelehrten, auf bestialische Weise in einem übel beleumundeten Fremdenheim ermordet! Kein Wunder, daß ein Schrei der Entrüstung durch Kopenhagen ging. Kollund denkt seufzend an die ersten acht Tage nach dem Mord, als Hunderte und aber Hunderte von Meldungen auf die Polizeidirektion niederregneten. Anzeigen, Hinweise, Beobachtungen, Denunziationen, vertrauliche Mitteilungen. Er hat damals drei Leute von Jörgensens Abteilung sich ausborgen müssen, um die Flut der einlaufenden Mitteilungen bewältigen, die sich zu Dutzenden meldenden Zeugen vernehmen zu können. Mitarbeit des Publikums? Sehr schön, aber in diesem Falle hat sie leider auch nicht den geringsten Erfolg gebracht.
Dabei sah der Fall zunächst kriminalistisch so klar und einfach aus. Ein Pärchen hatte sich abends in dem Fremdenheim eingemietet, natürlich als „Ehepaar“. Am nächsten Morgen war der Mann verschwunden, das Mädchen ermordet. Vielleicht Lustmord, vielleicht auch Eifersuchtstragödie oder einfacher Raubmord. Das Motiv würde sich schon herausstellen. Über den Täter war man sich ja im klaren. Das Signalement des verschwundenen „Ehegatten“ stand fest, sogar ein verhältnismäßig sehr gutes Signalement. Wenn auch der Name natürlich falsch war, man würde den Burschen schon bald kriegen.
Erste Enttäuschung, als die Ermordete als die Pflegetochter des Professors Frydendal identifiziert wurde. Erste bedenkliche Frage: Wie kam diese junge Dame in das üble Fremdenheim? Inspektor Kollund hat damals dieser Frage nicht den gleichen entscheidenden Wert beigelegt wie der junge Anker Frydendal es tut. Er hat schon zu viel Merkwürdiges erlebt. Auch die Feststellung, daß der angebliche Christian Larsen ein älterer Herr und durchaus kein Adonis gewesen sei, hat ihn nicht sonderlich erschüttert. Er hatte sich als nüchterner Kriminalist an die Tatsachen gehalten. Ingrid Steeg war im besten Einvernehmen mit dem angeblichen Larsen in das Fremdenheim gekommen, ohne zu ahnen, was ihr bevorstand.
Von da ab jedoch waren alle Spuren hoffnungslos im Sande verlaufen. Christian Larsen? Es gibt eine Menge Leute dieses Namens in Dänemark. Da, bei den Akten, liegt die Liste aller Christian Larsens. Trotz ihrer Überzeugung, daß dieser Name nur fingiert sei, hat die Polizei gewissenhaft Ermittlungen eingezogen über alle Leute dieses Namens. Keiner davon kommt in Frage. Was noch schlimmer ist: Nirgends hat man in den Kreisen der vielen Christian Larsens einen Anhaltspunkt finden können, der mit dem wirklichen Mörder oder mit Ingrid Steeg in Beziehung gebracht werden könnte.
Der Verdacht gegen Frau Jespersen, die Pensionsinhaberin, hat sich auch nicht aufrechterhalten lassen. Ebensowenig ein paar andere Verdachtsmomente, die im Laufe der Ermittlungen auftauchten.
So sind die Monate vergangen. Rastlose Arbeit, aber nicht der geringste Erfolg. Die Überreste Ingrid Steegs sind längst zur letzten Ruhe bestattet worden. Die Stimmung der öffentlichen Meinung aber ist mit jeder Woche gereizter geworden gegen eine Polizei, die unfähig war, ein solch scheußliches Verbrechen aufzuklären und zu sühnen.
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