„Nein!“
Das klingt so schroff und bitter, daß Inspektor Kollund stutzt und bei sich beschließt, auf diesen Punkt vorläufig nicht weiter einzugehen.
„Und was sagen nun Ihre Eltern dazu?“ lenkt er rasch ab.
Anker Frydendals Mund verzieht sich schmerzlich. „Meine Eltern sagen das gleiche wie Sie, Herr Inspektor. Sie wissen nicht, daß ich hierhergegangen bin, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen. Aber, mag die ganze Welt sagen, was sie will! Es ist nicht wahr! Ich, jawohl ich, Herr Inspektor, kannte Ingrid Steeg besser als sonst jemand! Sie war ein liebes, an Geist und Körper gesundes Mädel, ehrlich, offen und — rein.“
Leise, fast scheu kommt das letzte Wort. Inspektor Kollung empfindet etwas wie Rührung, als er in das heiße, erregte Gesicht des jungen Mannes sieht. Ach ja, das Leben schreibt grausame Tragödien, spielt oft genug höhnisch mit unseren heiligsten Gefühlen.
„Es ist nicht wahr!“ wiederholt Anker, den Kopf jäh in den Nacken werfend. „Ingrid hätte so etwas nie getan! Warum haben Sie den Mörder nicht finden können, Herr Inspektor? Warum hat die Polizei nach so langer Zeit noch nicht die leiseste Spur? Weil ihr alle von vornherein auf dem Holzwege gewesen seid! Weil der Schurke Ingrid durch irgendeinen teuflischen Betrug oder eine unbekannte Macht in das Mordhaus gelockt hat. Davon müssen Sie ausgehen! Dann finden Sie vielleicht den Schlüssel!“
Anker Frydendals Stimme bricht. Nur noch eine aufgebende, müde Handbewegung macht er. Die Tür geht. Die Sekretärin Bendixen kommt mit der Nachricht, Oberwachtmeister Elk werde in einer halben Stunde herüberkommen. Sie wirft einen neugierigen Blick nach dem offenbar sehr erregten jungen Mann und setzt sich in die andere Fensterecke an ihre Schreibmaschine.
Inspektor Kollund hat eben überlegt, daß es zwecklos sei, diese Unterredung fortzusetzen. Nur ein paar gute, aufmunternde Worte will er noch dem jungen Menschen da sagen. Da surrt der Fernsprecher auf Fräulein Bendixens Tisch.
„Herr Professor Frydendal möchte Sie sprechen, Herr Inspektor“, verkündet die Sekretärin und spricht, als Kollund nach seinem eigenen Apparat greift, wieder in die Muschel. „Einen Augenblick, Herr Professor. Ich verbinde.“
„Kollund.“ Der Inspektor hat seinen Hörer abgenommen. „Guten Tag, Herr Professor. Sie wollen wohl wissen, ob Ihr Sohn ...? Er ist noch hier bei mir und — Wie!?“
Kollunds Züge haben den Ausdruck höchster Spannung angenommen. Seine Augen, die über den Apparat hinweggehen, drücken grenzenloses Erstaunen aus, was bei ihm als altem Polizeibeamten selten genug vorkommt.
„Bitte noch einmal, Herr Professor! Ganz langsam und deutlich!“ Kollunds Hand greift seitwärts nach einem Bleistift, beginnt während des Abhörens eifrig zu schreiben. „Poststempel Neuyork? Und Sie sagen, die Schrift? Gut. Ich danke, Herr Professor ... Nein, etwas Bestimmtes kann man da noch nicht sagen. Es wäre mir lieb ... Jawohl, kommen Sie gleich her. Den Brief natürlich mitbringen! Gut, sehr gut. Ich erwarte Sie also in einer Stunde.“
„Das ist — allerhand!“ macht Kollund seinem Erstaunen Luft, als er den Hörer hingelegt hat. Seine Augen gehen in einer Pause scharfen Nachdenkens durch das Zimmer und bleiben an dem jungen Mann haften, der sich vorgebeugt und gespannt den ihm unverständlichen Bruchstücken des Ferngesprächs gelauscht hat. „Das ist wirklich ... Ja, Herr Frydendal, wenn Sie noch ein Stündchen hierbleiben wollen, können Sie gleich mit Ihrem Vater heimgehen.“
„Mein Vater will hierherkommen?“
„Ja.“ Kollund sieht wieder eine Minute wie geistesabwesend vor sich hin. „Da ist nämlich — Ihre Eltern haben vor einer knappen Stunde mit der Mittagspost einen Brief bekommen. Hm, ja — einen Brief, der angeblich von — Ingrid Steeg herrührt.“
„Ich — ich verstehe nicht! Einen — alten Brief Ingrids?“
„Nein, eben nicht. Der Brief ist erst vor acht Tagen in Neuyork aufgegeben worden und trägt auch dieses Datum. Jemand hat da an Ihre Eltern geschrieben.“ Kollund schaut nachdenklich auf die gemachten Notizen und liest mechanisch ab — „Ich ersehe eben aus einer Zeitung, daß Ihr mich für tot haltet. Zu Eurer Beruhigung kann ich Euch mitteilen, daß dies nicht der Fall ist. Ich lebe und bin gesund. Also beunruhigt Euch nicht und forscht bitte nicht weiter nach mir. Ich werde Euch bald wieder schreiben. — Unterzeichnet ist der Brief mit: Eure Ingrid.”
Anker Frydendal stößt einen leisen, heiseren Laut des Schreckens aus. „Das ist doch — unmöglich! Das ist ein — ein häßlicher Scherz!“
„Hm, ja. Ihre Eltern behaupten, dieser Brief trage unverkennbar die Schrift Ingrid Steegs.“
Weit offen stehen Anker Frydendals Augen. Ein kurzer, unartikulierter Laut preßt sich aus seiner Kehle, wird zu einem erlösten Schrei:
„Ingrid — lebt!!!“
„Ruhe! Ruhe, junger Freund!“ Kollund greift schnell zu, denn der Kopf Ankers ist vornübergesunken, droht mit seiner Schwere den ganzen Körper aus dem Stuhl zu reißen und zu Boden zu werfen. „Fassung! Wir wissen ja noch nicht — Fräulein Bendixen, ein Glas Wasser! — Hier, trinken Sie mal, Herr Frydendal!“
Gehorsam nippen Ankers zitternde Lippen an dem Glas, gehorsam reißt er sich zusammen und blickt den Inspektor an. Aber seine Augen sind noch verständnislos, meilenweit entfernt.
„Wir haben sie doch begraben“, stöhnt er vor sich hin. „Ingrid — sie schläft doch draußen auf dem Vesterkirchhof. Wir haben ihre Kleider erkannt — ihren Ring — ihr kleines, blaues Merkbuch — tot ist sie — tot — und nun soll ein Brief gekommen sein — eine Botschaft — aus dem Jenseits —?“
„Lassen Sie uns mal in Ruhe darüber sprechen“, sagt Inspektor Kollund und fühlt, daß er selber diese Aussprache nötig hat, um seine Gedanken zu ordnen. „Die Post aus dem Jenseits kommt nicht in Kopenhagen an. Der Brief kam aus Neuyork. Ob er wirklich von Ingrid Steeg herrührt, muß sich erst herausstellen. Ich fürchte, es steckt eine dumme, häßliche Mystifikation dahinter, obwohl ich mir nicht denken kann, weshalb jemand —“
„Aber Sie sagten doch eben, meine Eltern hätten gesagt —“, stammelt Anker verwirrt. „Vater und Mutter kennen doch Ingrids Schrift genau!“
„Ihre Eltern nehmen an, daß es wirklich Ingrid Steegs Schrift ist, und sind natürlich in schwerster Erregung. Eine Ähnlichkeit muß die Schrift also jedenfalls aufweisen. Aber jedermann kann sich täuschen. Wir müssen die Schrift erst haargenau untersuchen, bevor wir ein Urteil fällen können.“
„Ingrid lebt!“ Anker klammert sich wie ein Ertrinkender an die beiden Worte. „Dann wäre also — Sagen Sie mir doch, Herr Inspektor, wer um Gottes willen ist dann die andere? Die wir begraben haben? Kann denn ein Irrtum —?“
Kollund starrt sinnend auf seine Bleistiftnotizen. „Hm, ja. Die Leiche der Ermordeten war durch Vitriol bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Die Identifizierung gelang nur durch Kleider, Ring und Merkbuch. Allerdings stimmten auch Größe und Gestalt. Ihre Eltern, Herr Frydendal, und auch Ihr Hausarzt Dr. Monsen erklärten die Leiche für die sterblichen Überreste Ingrid Steegs. Dazu kommt das Zeugnis der Frau Jespersen, die in dem Lichtbild Ingrid Steegs die Dame erkannte, die als Frau Larsen bei ihr wohnte. Scheint also kaum möglich, daß — aber immerhin, irren ist menschlich.“
„Man hat also —“, sagt Anker atemlos, „man hat also eine — eine andere ermordet und als Ingrid ausstaffiert!“
„Eine Möglichkeit“, sagt Kollund bedächtig, „aber nicht sehr wahrscheinlich. Wie käme der Mörder dann an Kleider und Wertsachen Fräulein Steegs? Vor allem aber: Herr Frydendal, können Sie sich einen Grund denken, warum Ingrid Steeg heimlich nach Amerika gegangen sein und sich bis jetzt verborgen haben sollte?“
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