Die Monate sind vergangen und haben neue Arbeit gebracht. Natürlich lief die Fahndung im Falle Steeg automatisch weiter. Zwei der besten Beamten der Kopenhagener Kripo waren ausschließlich auf diese Spur gesetzt worden. Kollund selber hatte immer wieder neue Ermittlungen und Vernehmungen durchgeführt. Aber der Tag verlangte sein Recht. Neue Fälle waren zu bearbeiten. Das tägliche Arbeitspensum mußte erledigt werden. Als auch die letzte Hoffnung versandete, die Möglichkeit, durch die ausländischen Polizeizentralen, denen das Signalement Christian Larsens übermittelt worden war, auf eine Spur gebracht zu werden, hatte Inspektor Kollund ganz im geheimen das Hoffen aufgegeben und dafür die trübe Überzeugung gewonnen, daß der Fall Steeg fortan nur in der Liste der „unaufgeklärten Fälle“ sein Leben weiterführen werde.
Und nun soll die Ermordete gar nicht Ingrid Steeg gewesen sein?
Kollund blättert in dem Aktenband. Noch einmal den ganzen Fall durcharbeiten! Sich jede Einzelheit ins Gedächtnis rufen. Das ist jetzt das Wichtigste.
Die Durchsicht der einzelnen Meldungen und Berichte kann er sich sparen. Wo ist denn ...? Vernehmungsbericht Jespersen. Vernehmung des Kaufmanns Jörgen Madsen, Aussage des Professors Frydendal — aha, hier haben wir’s ja! Zusammenfassender Bericht für die Staatsanwaltschaft. Kollund biegt den Aktendeckel um, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und vertieft sich in diesen Bericht.
*
„Am 4. Februar morgens 9 Uhr wurde im Fremdenheim der Frau Jespersen, Jakobsgade 35, durch die dort in Stellung befindliche Hausangestellte Gerda Nielsen, im Zimmer Nr. 9 eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche gefunden.
Die Mordkommission stellte fest, daß es sich um die Leiche einer jungen Frau oder eines jungen Mädchens handelte. Sie war nicht verbrannt, sondern durch Vitriol entstellt. Gesicht, Haar, Hände und Hautgewebe waren völlig unkenntlich. Blutspuren auf dem Bett und an den Wänden deuteten darauf hin, daß außer der ätzenden Säure noch eine andere Waffe angewendet worden war. Eine Wunde war zunächst infolge der Zerstörung der Hautgewebe nicht zu erkennen. Bei der Obduktion stellte jedoch der Polizeiarzt fest, daß der Hals der Toten von einem scharfen Instrument, wahrscheinlich einem Messer, durchbohrt worden war. Nach dem Gutachten der Ärzte ist der Tod durch diese Stichwunde verursacht, die Leiche erst später durch Übergießung von Vitriol unkenntlich gemacht worden.
In einer im Mordzimmer gefundenen Damenhandtasche wurde ein in blaues Leder gebundenes kleines Merkbuch gefunden, in dem unter anderem die Verabredung mit einer gewissen Karen Hansen notiert war. Die noch am gleichen Tage ermittelte Kindergärtnerin Karen Hansen, Vodroffsvej 71, erkannte in dem Merkbuch das Eigentum ihrer Schulfreundin Ingrid Steeg, Pflegetochter des Professors Frydendal in Hellerup. Professor Frydendal, dessen Frau und die Hausangestellte Jensine Kramm erkannten sowohl in dem gefundenen Ring wie in den Kleidungsstücken der Toten das Eigentum Ingrid Steegs. Durch Messungen, die der hinzugezogene Hausarzt der Familie Frydendal, Dr. Monsen, vornahm, wurde die Übereinstimmung der Leiche mit den Größenverhältnissen der Ingrid Steeg festgestellt. Ein Zweifel an der Identität erschien um so weniger möglich, als sowohl Frau Jespersen wie die Hausangestellte Gerda Nielsen ohne Zögern in dem vorgelegten Bild der Ingrid Steeg die Dame wiedererkannten, die das Zimmer Nr. 9 in der letzten Nacht bewohnt hatte.
Nach diesen Feststellungen wurde die Leiche polizeilicherseits zur Bestattung freigegeben.
Über den mutmaßlichen Täter sagte Frau Jespersen aus:
‚Am Abend gegen 22 Uhr klingelte an meiner Tür ein Herr, der fragte, ob ich ein Doppelzimmer frei habe. In seiner Begleitung befand sich eine junge Dame. Ich führte die Herrschaften in die Diele und legte ihnen pflichtgemäß das Fremdenbuch vor. Der Herr, den die Dame mehrfach ‚Christian‘ nannte, trug eine Binde um den rechten Handballen. Er sagte mir, er habe sich beim Schließen der Autotür geklemmt und bat mich, der Einfachheit halber selber seine Personalien einzutragen. Dies tat ich auch. Nach seinem Diktat schrieb ich in das Fremdenbuch: Christian Larsen, geboren 12. 10. 1883 zu Vordingborg, Kaufmann, wohnhaft Vordingborg. Wie gebräuchlich wurden die Personalien seiner Frau nicht aufgeschrieben, sondern nur der Vermerk ‚mit Ehefrau‘ gemacht.
Während dieser Zeit unterhielten sich die beiden Gäste leise und anscheinend sehr lustig miteinander, denn die Dame lachte mehrmals. Ich führte die Herrschaften dann zu dem freien Zimmer Nr. 9 und wünschte ihnen gute Ruhe. Herr Larsen sagte mir noch, er wolle am nächsten Morgen nicht geweckt werden. Er bezahlte auch im voraus den geforderten Zimmerpreis für die Nacht. Das Geld, einen Fünfkronenschein, entnahm er einer dunkelbraunen, sehr großen Brieftasche.
Wenige Minuten später schickte ich meine Hausangestellte in das Zimmer Nr. 9, um frische Handtücher auf den Ständer neben dem Waschtisch zu hängen. Sie hat das Ehepaar Larsen in ruhigem Gespräch angetroffen, im Begriff, sich für die Nachtruhe fertig zu machen. Gepäck führten die Gäste nicht mit sich.
Ich hatte keinen Grund, an der Richtigkeit der angegebenen Personalien zu zweifeln.
Herr Larsen mochte etwa 50 Jahre alt sein. Er hatte graumeliertes, kurzgeschnittenes Haar, bartloses Gesicht, einen sehr dünnen Mund, dessen Winkel in zwei scharfen Falten endigten und ihn so unverhältnismäßig breit erscheinen ließen, graue Augen und starkknochige Hände, auf denen die Adern sehr hervortraten. Bekleidet war er, soviel ich sehen konnte, mit einem schwarzen Mantel, einem zweireihigen dunkelgrauen Anzug, braunen Schuhen mit Gummisohlen, weichem, dunklem Filzhut und hellbraunem, weißgetupftem Selbstbinder.
Seine Frau war etwas größer als er und sehr schlank. Sie muß mindestens zwanzig Jahre jünger gewesen sein als ihr Mann, hatte blondes, welliges Haar, lebhafte, braune Augen und war weder geschminkt noch gepudert. Ihre Bekleidung bestand aus einem dunkelblauen Jackenkleid, weißem kurzem Sportpelz, einer sportlichen weißen Mütze und grauen Handschuhen. An die Farbe der Schuhe kann ich mich nicht erinnern.
Ob Herr und Frau Larsen Trauringe trugen, habe ich nicht bemerkt.‘
Die Aussage der Frau Jespersen wurde zunächst mit Vorbehalt aufgenommen, da die Jespersen der Polizei bekannt ist und bereits mehrfach im Verdacht der Kuppelei gestanden hat. Ihr Fremdenheim gilt allgemein als eine Art Absteigequartier und wird meist von Liebespärchen besucht.
Da der Verdacht einer Mitwisserschaft oder Begünstigung vorlag, wurde Frau Jespersen zunächst in Haft behalten.
Weitere Ermittlungen ergaben indes, daß auch die Aussagen der unbescholtenen Hausangestellten Gerda Nielsen sowie eines zufälligen Logiergastes, des unbescholtenen Kaufmanns Madsen, mit der Darstellung der Jespersen übereinstimmten. Gleichfalls wurde festgestellt, daß die Jespersen die ganze Nacht über im gleichen Zimmer wie ihre Hausangestellte geschlafen und dieses Zimmer nicht verlassen hatte.
Daraufhin wurde die Entlassung der Frau Jespersen verfügt.
Die Zeugin Karen Hansen erkannte in den Kleidern der Ermordeten die gleichen Kleidungsstücke, die ihre Freundin Ingrid Steeg am Mordtage getragen hatte. Auch die Handtasche gehörte unzweifelhaft der Ingrid Steeg.
Die Zeugin Hansen sagte ferner aus:
‚Ingrid Steeg, mit der ich seit Jahren befreundet bin, kam um 18 Uhr zu mir in meine Wohnung. Etwas Besonderes konnte ich ihr nicht anmerken. Sie war freundlich und gelassen wie immer. Wir aßen zusammen Abendbrot und sprachen über meinen Kindergarten und über Sport. Ingrid erzählte mir, sie sei am Vormittag wieder im Schwimmbad Helgoland gewesen und habe heute im Kraulen Rekord geschwommen. Ich wollte sie bereden, noch länger zu bleiben, aber um 20 Uhr erklärte Ingrid, sie müsse nun eilig fort, denn sie habe noch eine wichtige Verabredung. Ich begleitete sie bis zur Ecke Vesterbro und suchte sie noch einmal umzustimmen, da ich gern noch eine Stunde mit ihr geplaudert hätte. Als Ingrid wieder auf ihre Verabredung hinwies, neckte ich sie damit, daß sie gewiß von einem Herrn erwartet werde. Dazu lächelte sie, ließ sich jedoch nicht weiter darüber aus.‘
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