Der Krieg des Jahres 1914 trägt noch die Züge von Auseinandersetzungen des vorigen Jahrhunderts. Kavallerie tritt an, Festungen werden belagert und eingenommen. Mit raumgreifenden Schritten wird Feindesland durcheilt. Stellungskrieg ist noch ein Fremdwort. Die Soldaten der ersten Monate wirken mit ihren Pickelhauben wie archaische Kämpfer aus einer anderen Zeit. Kaum zu glauben, dass zwischen ihnen und den Stahlhelm-Trägern, die gegen Gas, Tanks und Flugzeuge kämpfen werden, nur ein bis zwei Jahre liegen.
Theodor Hein, geb. 1893:
Am 16. Oktober 1913 wurde ich zum Militärdienst eingezogen, und am 4. August 1914 rückte ich mit dem Infanterie-Regiment 149, Schneidemühl, in Richtung Belgien aus. Als wir losgingen 1914, waren die Soldaten nicht zu halten. Sie waren wie die Wilden. Wir sind als Vorauskommando vorgegangen und lagen ein ganzes Ende vor der Hauptarmee. Die 149er waren ein Eliteregiment. Überall, wo dicke Luft war, kamen sie hin. An der Grenze haben wir erst einmal die Grenzbäume kaputtgeschlagen. Wir sind geschlossen im Regiment marschiert, rechts von uns die Artillerie. Richtung Festung Diest. Sagt einer: »Hauptmann, von links aufsteigende Staubwolken.« Wir haben gedacht: »Das ist eine Viehherde.« Unser Hauptmann schaute durch sein Fernglas, dann brüllte er laut: »Infanterie, halt!« Sechs belgische Geschütze waren aufgefahren. Wir mussten anhalten, drei bis vier deutsche Geschütze feuerten. Es hätte ein Blutbad bei uns gegeben, wenn uns die Belgier vom Hügel aus unter Feuer genommen hätten. Die wollten dicht an uns rankommen und das wurde ihnen zum Verhängnis. Ich bin nachher mit ein paar Mann dort hingelaufen. Die sechs Geschütze, Pferde, Mannschaften waren wie von der Bildfläche wegrasiert. Das war unser erstes Treffen mit dem Feind.
Dann lagen wir in Zelten vor Löwen. Einmal hatte ich Pech. Ich musste frühmorgens austreten und blieb allein zurück. Da schossen die Belgier aus den Fenstern hinter mir her mit Jagdgewehren. Ich bin von einem Baum zum anderen gelaufen und habe zurückgeschossen. Wenn einer aus dem Fenster guckte, habe ich abgedrückt. Der hätte mir auch einen Kopfschuss verpasst. Als wir am anderen Nachmittag in Löwen hereinkamen, gab es gewaltige Straßenkämpfe, bis wir Herr der Lage wurden. Wir wurden beschossen und mit kochendem Wasser begossen. Da haben wir Leichtbenzin genommen. Ich habe die Tür zu einem Haus aufgeschlagen, Benzin rein, Streichholz und dann brannte das ganze Haus. Und die Leute im Haus kamen nicht mehr raus. Ein älterer Mann wollte nicht verbrennen und sprang aus dem Haus. Er lag als Toter unten auf dem Bürgersteig. »Wie du mir, so ich dir«, hab ich mir gesagt.
Es wurden viele Belgier erschossen. Es gab auch anständige Belgier, die sagten zu uns: »Wie kann man bloß auf eine reguläre Truppe schießen. Diejenigen, die das angezettelt hatten, sind getürmt, und die Unschuldigen müssen wieder leiden und werden erschossen.« Wir haben auch einen erschossen, der sein Hemd aufgeknöpft und uns seine Brust entgegengehalten hat. Ein Erschießungskommando bestand immer aus acht Mann. Der eine hat auf die Brust gezielt, der andere auf den Kopf. Erstes Glied kniend, zweites Glied stehend. Ich habe den Befehl gegeben, musste ich ja: »Seite, legt an, Feuer.« Den Befehl hierzu habe ich von einem Offizier erhalten. Es wurden sechs, sieben, acht Mann erschossen, manchmal auch Einzelne. Die mussten gleich ihr eigenes Grab graben. Wer am Grab stand, kriegte einen Schuss und fiel in das Loch rein. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele solche Erschießungen ich mitgemacht habe.
Lüttich, Diest, Löwen, Arschot, die Festung Namur und Longwy haben wir erstürmt. Dann ging es in die Marne-Schlacht. Es waren erbitterte Kämpfe. Von dort kamen wir später, als der Russe in Ostpreußen eingebrochen war, in die Schlacht bei Tannenberg.
Detlev von Ahlefeld, geb. 1895:
In Belgien erreichten wir Löwen, und dort spielte sich diese berüchtigte Geschichte ab. Löwen ist ja verbrannt worden. Nach meiner Auffassung wird dies in der Historik vollkommen falsch dargestellt. Denn ich bin noch mit einem Trompeter und einem belgischen Geistlichen durch die Stadt gegangen, und an jeder Straßenecke hat der Trompeter sein Signal gegeben. Der Pfarrer sprach dann einmal französisch, einmal flämisch: »Wenn jetzt noch einmal aus den Fenstern geschossen wird, wird Löwen in Brand gesteckt.« Und wir waren kaum wieder im Rathaus – wir lagen im Rathaus von Löwen –, da ging eine Knallerei los aus allen Löchern. Wir sind dann zum Bahnhof geeilt. Gegenüber waren Hotels, auf deren Balkons die belgischen Maschinengewehre standen. Und da blieb uns ja nichts anderes übrig, als sie auszuräuchern. Es wurden mit den Gewehrkolben die Fenster eingeschlagen und, wenn eine Petroleumlampe da war, wurde sie in die Gardinen geschmissen. Wir standen mit allerhand Leuten draußen vor dem Hotel und warteten, bis die Leute rauskommen. Mich hat immer gewundert, dass die so blöde waren, ihre Waffen zu behalten. Wir haben sie auseinanderdividiert. Diejenigen, die Waffen hatten, »rechts raus«, die anderen konnten nach Hause gehen. Und die, die Waffen hatten, die mussten sich ein Grab schaufeln, wurden hingestellt und abgeschossen. Ich schätze, das waren vielleicht so 12, 15 Leute. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass das vollkommen korrekt war, denn die Front war ja 20, 25 Kilometer weit weg. Und wenn einer hinter der Front schießt, die sogenannten Franktireurs, der wird eben an Ort und Stelle erschossen. Da kann man doch nicht noch lange ein Kriegsgericht abhalten.
Karl Theil, geb. 1893:
Von Aachen, wo wir ausgeladen worden waren, ging es feldmarschmäßig, Kanonen, Reiter vorneweg, in Richtung belgische Grenze. Kurz vor Lüttich stießen wir auf ersten Widerstand. In Arschot vor Brüssel gab es dann Zunder. Die belgischen Soldaten vergesse ich nie. Ihre Infanterie lag etwa einen Kilometer entfernt an einem Bahndamm. »Peng, peng«, hörte ich die ersten Infanteriekugeln zischen. Manchmal wurden bei uns Pferde getroffen. Man denkt: »Donnerwetter, jetzt geht’s um die Wurst.« Nun hatten wir unsere Kanonen aufgebaut. Das ging sehr schnell. Zack, zack kamen die Kommandos, wurde die Entfernung durchgegeben, und dann hieß es: »Immer rein.« Unser Führer, ein Hauptmann von Roell, sah sehr wohl den Erfolg unseres Beschusses, sah aber auch, dass sich gegenüber noch etwas bewegte. Da sagte er zu uns: »So, jetzt Granatenaufschlag.« So eine preußische Granate war etwas Furchtbares. Mit einem Mal war es ruhig, keine Kugel mehr. Jetzt kamen die Kommandos »Aufhören, einpacken«. Die Pferde wurden wieder herangeholt, angespannt und dann fuhren wir auf einer Chaussee mit hohen Alleebäumen dahin, wohin wir geschossen hatten. Im Chausseegraben lag ein Infanterist, ein preußischer Grenadier vom Infanterie-Regiment 34 aus Stettin. Er war tot: »Mensch, ist das furchtbar.« Das war der erste Tote. Diesen Soldaten von damals, den seh ich noch heute vor mir. Wir kamen zu den Belgiern. Da lagen sie. Was soll ich sagen, es war Artilleriefeuer gewesen.
Wir kamen in eine Stadt. Die Augen gingen vorsichtig immer hin und her. Vor der Tür eines Hauses stand ein katholischer Pfarrer. Irgendjemand muss da geschossen haben, jedenfalls knallte es plötzlich und der Priester sackte tot zusammen. Es ging mir durch und durch. Nachher hieß es, aus dem Dachfenster des Hauses habe jemand auf unsere Soldaten geschossen. Irgendeinen Grund muss es ja gehabt haben. Bald stand die kleine Stadt zur Hälfte in Flammen. Hier und da brannten Häuser und es wurde auch noch aus Häusern geschossen. Auf alle Fälle ging es weiter in Richtung französische Grenze und dort trafen wir auf Widerstand der ersten französischen Soldaten, und zwar waren das Schwarze, Senegalneger. Was soll ich sagen, davon wurden wir überrascht. Plötzlich hieß es: »So schnell wie möglich aus der Sicht raus und hinter einem Hügel in Deckung!« Solche Aufmärsche gingen immer im Galopp vor sich. Der Führer pfiff und dann rasten wir über ein Kornfeld. Wir waren ein Kavallerieflügel, nur Kavallerie mit Kanonen, und dieser Flügel sollte die Franzosen umfassen.
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