Wolf-Rüdiger Osburg - Hineingeworfen

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Wie junge Männer den Ersten Weltkrieg erlebten. Was wissen wir über den Ersten Weltkrieg, über die `Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts´, in der Millionen Menschen ihr Leben ließen? Was wissen wir über die Gefühle und Ängste unserer Großväter und (Ur-)Urgroßväter, ihren Alltag im Krieg? Wolf-Rüdiger Osburgs einzigartige Dokumentation versammelt die Stimmen von 135 ehemaligen deutschen Kriegsteilnehmern. Ihre Erinnerungen fügen sich wie in einem Kaleidoskop zum dramatischen Szenario der Sinnlosigkeit des Krieges.-

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Wolf-Rüdiger Osburg

Hineingeworfen

Der Erste Weltkrieg in den Erinnerungen seiner Teilnehmer

Saga

Für Annette, Anna und Daniel

Gerd Krumeich

Vorwort

Dieses Buch ist ein Glücksfall. Es gibt jedem Leser – dem Fachhistoriker genau wie dem interessierten Laien – die Möglichkeit, sich tief »einzulesen« in das, was die Wirklichkeit des soldatischen Kriegserlebnisses im Ersten Weltkrieg ausmachte. Gerade noch rechtzeitig hatte Wolf-Rüdiger Osburg die richtige Idee, als er zu Beginn der 1990er Jahre mehr als 135 Frontsoldaten aus der Zeit von 1914 bis 1918 aufspürte, die er tatsächlich zum Reden bringen konnte. Zwar mangelte es auch zuvor nicht an direkten und dichterischen Selbstzeugnissen aus dem Ersten Weltkrieg. Dorgelès, Renn, Remarque, Jünger haben das Bild des Weltkrieges mehrerer Generationen geformt und bestimmt. Und vielleicht noch mehr die populären Massenschriftsteller wie Beumelburg oder Dwinger, deren Kriegserzählungen zweifellos eigenem Kriegserleben entsprangen. Schon in den 1920er Jahren gab es wegen der Vielfältigkeit, der Unerhörtheit und der ideologischen Brisanz der »Fronterzählung« immer wieder erbitterten Streit um das »wahre Kriegserlebnis«.

Auch heute noch geht die Auseinandersetzung weiter. Waren »die Soldaten« eher »Opfer« des Krieges oder brachten sie selbstbewusst ihr Opfer für das Vaterland? Waren sie gar »Täter«, die Genugtuung empfanden, wenn sie einen »Tommy« oder »Franzmann« mit dem Maschinengewehr oder dem Spaten direkt töteten oder – abstrakter – mit schwerem Kaliber haufenweise auf Distanz erledigten. Aber wie will man überhaupt Typisches herausfinden, bei allein mehr als 13 Millionen Soldaten auf deutscher Seite? Natürlich gab es da »Opfer« aller Art, aber auch ein Sadist oder Killer konnte auf seine Kosten kommen. Man wird sich sicherlich auf Dauer damit begnügen müssen, dass es einen ungeheuren Spielraum an vielfältigsten Kriegserfahrungen gegeben hat, die aber alle zusammen nicht beliebig austauschbar waren und eine gewisse Typik aufweisen. Dies ganz besonders an der entscheidenden Stelle des Ersten Weltkrieges, nämlich im Bewegungs- und Stellungskrieg an den 700 Kilometern der Westfront, von Flandern bis zu den Vogesen.

Wolf-Rüdiger Osburgs klug strukturierte und kommentierte Sammlung von 135 ungewöhnlich direkten Selbstzeugnissen hilft uns sehr viel weiter beim Erfassen dieser zentralen Kriegswirklichkeit. Das gilt auch für viele andere Fragen, insbesondere das berühmte »Augusterlebnis« von 1914 und die Frustrationen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Greise, die er zum Sprechen gebracht hat, reden wahr. Anachronismus, also Dinge und Erfahrungen, die wirklich nicht aus jener Zeit stammen können, habe ich an keiner Stelle gefunden. Diese Erzählungen können wegen ihrer Typik genau wie wegen ihrer überraschenden Individualität und direkten Lebendigkeit als signifikante Zeugnisse des Kriegserlebens gewertet werden. Der Gedächtnisforschung ist ja auch das Phänomen bekannt, dass uralte Menschen plötzlich wieder direkt zurückfinden zu Erfahrungen, die durch das Rad der Zeit verformt worden waren. Auch die politische Auseinandersetzung der 1920er Jahre um Kriegsschuld und Niederlage hat ihre Spuren in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hinterlassen: Um die »Dolchstoß«-These kommt kaum eine soldatische Kriegeserzählung herum.

Auch mein Vater, Jahrgang 1906, hat immer vom Ersten Weltkrieg erzählt, allerdings unbewusst aus der Perspektive des farbentragendnichtschlagenden Korpsstudenten der 1920er Jahre. Aber kurz vor seinem Tod, 1993, lösten sich ihm solche Fesseln. Jetzt konnte er unvermittelt erzählen, was er tatsächlich als Kriegskind erlebt hatte. Etwa die Geschichte vom Onkel, der auf Urlaub von der Front kam und stolz sein Gewehr zeigte, in dessen Schaft er für jeden erledigten Feind eine Kerbe geschnitzt hatte. Die Großmutter empfand das als Hochmut und Gottversuchung, und als der Onkel dann fiel, war für sie Gottes Ordnung wiederhergestellt. Eine solche Geschichte erfindet niemand, aber es ist ohne Weiteres möglich, dass sie Jahrzehnte schlummern muss, bevor sie im hohen Alter wieder frei wird. Vielleicht gehört diese Fähigkeit ja auch zum Schatz des Wissens, das nur ein sehr alter Mensch hat, weshalb er in vielen traditionalen Gesellschaften und Strukturen Ehre und Einfluss genießt.

Wolf-Rüdiger Osburgs Greise sind zum größten Teil einfache Männer gewesen und geblieben, er hat sie in Altersheimen gesucht und gefunden. Das, was sie ihm berichtet haben, ergibt – alles zusammen – eine erstaunlich »dichte« Erzählung von der Entstehung des Krieges, von seinem Verlauf und auch von seinen Folgen. Beispielhaft dafür ist das in der historischen Forschung so lange heftig umstrittene »Augusterlebnis« von 1914. Waren die Menschen damals eher »kriegsbegeistert« oder vielmehr ahnungsvoll-skeptisch, angstvoll oder verzweifelt? Osburgs Zeitzeugen geben ein ganzes Kaleidoskop von Antworten, aus denen sich ein ebenso buntes wie tiefenscharfes Bild von der Vielzahl konkreter Erfahrungsmöglichkeiten ergibt: Irgendwie begeistert scheinen alle oder fast alle gewesen zu sein. Aber war das die Hurra-Begeisterung der Berliner, Frankfurter oder Münchener Straße? Einer der alten Herren, Karl Theil, geb. 1893, sagt in aller Deutlichkeit etwas ebenso Erstaunliches wie Wahres: »Unterwegs auf den Bahnhöfen standen die jungen Menschen, vor allem viele Mädchen und Kinder, und winkten. Die Begeisterung war damals groß. ›Heil Dir Kaiser‹, das war nichts Besonderes. Es war alles wie beim lieben Gott«. Eine Begeisterung also wie in der Kirche! Hoch die Herzen, sursum corda! Seiner alten Verbindung zu religiöser Geistigkeit ist »Begeisterung« als Wort heute – seit 1914? – entledigt; es ist wichtig, dass die alte Stimme diese Dimension noch einmal in Erinnerung bringt. Solche Quellen, solche Zeugnisse sind geeignet, der Geschichtswissenschaft neue Impulse zu geben.

Oder was das historiografisch so umstrittene Problem der Kriegsbrutalität angeht: Wie konnte es anders sein, als dass bei den zig Millionen Kriegsteilnehmern eine signifikant große Zahl von Verhaltensweisen registriert werden kann? Und die Kriegsereignisse waren ja auch bei aller Sterilität immer wieder ganz verschieden. Natürlich hat es die schreckliche Situation gegeben, dass »keine Gefangenen gemacht« wurden, was in der Erzählung von Carl Heckert auf unvergessliche Weise geschildert wird. Aber neben solcher Ermordung Wehrloser auf Befehl gab es genau so gut Szenen äußerster Menschlichkeit im Kampf.

Solches Sowohl-als-auch banalisiert nicht, löst nicht das nötige Gesamtbild des Krieges in Episoden auf, in beliebig Erlebtes. Was bleibt, ist die Geschichte eines unglaublichen Überlebens in ständiger Nähe des Todes. Die totale Erschöpfung, die Suche nach Nahrung und Wasser, das Entsetzen beim Anblick der zerrissenen Körper der Kameraden – aber auch die Tatsache, dass die Kriegswirklichkeit in vielen Fällen nichts anderes war als sehr harte Arbeit abwechselnd mit Phasen extremer Langeweile. Wichtig ist auch, dass all die alten Männer erzählen, wie eng die Verbindung zur Heimat trotz allem geblieben ist. Diese Soldaten waren ja zum größten Teil gezogene Zivilisten. Sie waren keine im Krieg heimisch gewordenen Landsknechte – die gab es auch –, sondern Familienväter oder junge Burschen, die aus der Familie gerissen wurden und sich im Krieg einrichten mussten. Wie sie das taten, ist kaum einmal so variantenreich und gerade deshalb so dicht erzählt worden wie in dieser Sammlung von Selbstzeugnissen. Man wünscht diesem Buch gerne interessierte Leser und viel Erfolg, denn es ist eine authentische Quellensammlung aus erster Hand. Wolf-Rüdiger Osburg gebührt Dank und Anerkennung für diese Sammlung, die uns hilft, den Ersten Weltkrieg besser zu verstehen.

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