Hermann Baass, geb. 1897:
1913 waren wir nach Paris gezogen, wo wir im 10. Arrondissement in der Rue Château d’Eau wohnten. Das war ein Deutschenviertel, in dem ungefähr 100000 Deutsche lebten. Der Krieg kam für uns überraschend. Wir standen am Tag zuvor, am Abend des 31. Juli 1914, zusammen mit einigen Deutschen und vielen Franzosen vor Le Matin, der größten französischen Tageszeitung. Alles wartete auf das Urteil gegen Madame Caillaux, die Frau des Finanzministers, die einen Redakteur erschossen hatte, weil er über ihren Mann schlecht berichtet hatte. Sie wurde freigesprochen. Mit einem Mal wurde die Kriegserklärung Deutschlands gegenüber Frankreich veröffentlicht. Einige Schritte von uns entfernt schrie ein Deutscher: »Nieder mit Frankreich!« Er wurde verprügelt. Ich habe später in einer deutschen Zeitung gelesen, dass damals schon in großem Umfang aktiv gegen Deutsche vorgegangen wurde. Das war aber nicht der Fall.
Am nächsten Tag wollten wir flüchten. Mein Vater war auf der Gesandtschaft gewesen, und da wurde ihm empfohlen zu verreisen, der Krieg könne nicht lange dauern. »Wir haben keine Kohlen mehr und die Franzosen ebenso«, wurde ihm mitgeteilt. Am nächsten Tag bekam ich von meinem Vater Geld, um die Monatsrechnungen beim Milchhändler, Brothändler und Schlachter zu bezahlen. Mein Vater hatte mir Franc-Scheine mitgegeben, aber die Leute wollten Silber haben. Mir wurde geantwortet: »Dann zahlen Sie, wenn Sie wiederkommen.« So waren wir Deutsche dort angesehen, keine Gehässigkeit, gar nichts. Spätabends sind wir nach dem Gare du Nord gefahren und es war abgesperrt. Vor allem gab es viele, viele französische Reservisten, die zu ihren Regimentern wollten, und dazwischen Deutsche. Meine Mutter, meine kleinen Geschwister und mein älterer Bruder, der 18 war, kamen auf Umwegen in den Bahnhof hinein. Wir hatten nämlich einen Diener, dessen Freund Kellner im Wartesaal war. Mein Vater und ich sind über das eiserne Gitter geklettert. Die Koffer – wir hatten nur wenig bei uns – wurden von anderen über das Gitter gereicht und dann haben wir Platz genommen. Meine Mutter hatte einen Sitzplatz und die kleineren Kinder auch. Meine Schwester war zehn, mein kleiner Bruder sechs. Dann fuhr der Zug los, brechend voll. In Maubeuge mussten wir raus. Wir sind in den Wartesaal gegangen. Es war der 1. August 1914.
Es lief ein Zug ein, mit dem die deutsche Gesandtschaft Frankreich verließ. Wir erkannten einige Mitarbeiter der Gesandschaft von Empfängen für die Deutschen in Paris. Plötzlich entdeckten wir im Gepäckwagen unsere Koffer. Wir haben unseren Vater geholt und konnten schließlich nach Brüssel mitfahren. Dort mussten wir den Zug verlassen und nahmen ein Hotel für die Nacht. Am nächsten Tag haben wir uns als Engländer angemeldet und in einem holländischen Ledergeschäft in der ersten Etage drei Zimmer möbliert gemietet. Dort sind wir erst einmal eingezogen. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Bei Einkäufen haben mein Bruder und ich englisch gesprochen. Zehn Tage später erfuhren wir, dass unsere Wohnung gestürmt werden sollte, weil die Belgier unsere wahre Nationalität herausbekommen haben. Die uns stürmen wollten, waren keine Wallonen, das waren Flamen. Wir sind zum Bahnhof gefahren und wollten über Ostende nach England. Es hieß aber, in Ostende würden Deutsche ermordet. Wir sind erst einmal wieder in unsere Wohnung zurückgekehrt, die dann aber tatsächlich von Flamen gestürmt wurde. Es gelang uns, rechtzeitig über den Garten in die andere Straße zu gelangen. Ich wurde mit einem Hundert-Franc-Schein losgeschickt, um eine Taxe zu holen, die uns zum deutschen Generalkonsulat bringen sollte. Die Straße vor dem Konsulat war vom belgischen Militar abgesperrt. Dennoch fanden wir jemanden, der uns gegen Geld zum Konsulat brachte. Es wurde später gesagt, fünf- bis sechstausend Deutsche seien da gewesen, die Treppen und das gesamte Konsulatsgebäude war belegt. Die Deutschen wurden daraufhin in einen Zirkus gebracht, wo wir alle ringsherum saßen, während auf der Bühne die belgischen Soldaten mit ihren hübschen Friedensuniformen standen. Mein älterer Bruder musste immer bei der Familie bleiben, mein Vater und ich sind auf die Straße gegangen. In den Zeitungen stand, die Belgier hätten Köln erobert. Auf einmal kamen Lazarettautos und wir fragten uns, wie denn die Lazarettwagen hierher kommen konnten, wenn die Belgier in Köln sein sollten. Vereinzelt hörten wir auch Kanonendonner. Teile Belgiens waren ja tatsächlich schon von deutschen Truppen eingenommen worden.
Es war Mitte August 1914. Dann wurden wir im Morgengrauen in einer langen Menschenkette unter Bewachung zu einem Zug gebracht und von Brüssel an die holländische Grenze befördert. Eine Lederaktentasche mit den Familiendokumenten war das Einzige, was wir an Gepäck hatten. Vom letzten Grenzbahnhof aus mussten wir zu Fuß nach Holland laufen. Erst kamen belgische Patrouillen, dann holländische Grenzposten. Mein Bruder und ich verloren meine Eltern und meine Geschwister aus den Augen. Die belgischen Soldaten wollten unsere Papiere sehen, aber wir hatten keine. Mein Bruder und ich waren auf dem Pass meiner Mutter mit drauf. Da wir Französisch konnten, wurden wir durchgelassen. Im holländischen Roosendaal trafen wir uns wieder. Von dort aus kamen wir dann nach Deutschland. In Bergedorf wurden wir von Verwandten aufgenommen. Ersatz für verlorengegangenes Hab und Gut oder eine sonstige Unterstützung gab es damals noch nicht. Mein Vater hatte aber bei der Abreise noch einen größeren Geldbetrag bei sich und es ging uns gut.
G. D., geb. 1898:
Wir wohnten damals so ungefähr 30 Kilometer vor der russischen Grenze. Polen gehörte ja noch zu den Russen. Wir waren in Ostpreußen sehr königstreu. In der Schule wurde uns gesagt: »Der Kaiser ist ein lieber Mann, der wohnet in Berlin.« Als der Krieg nun begann, kamen die Kosaken sofort über die Grenze. Das war ein Beweis, dass der ganze Krieg schon lange vorbereitet war, wir aber ahnungslos waren. Die Russen kamen in das Gebiet, um die männliche kriegstüchtige Jugend abzuschöpfen. Das ist geschehen und die Männer sind nach Russland transportiert worden. Ich war zu diesem Zeitpunkt auf dem Feld, das etwas abseits von unserem Gutshof lag, und mit einem Mal kommt mein Vater oder einer meiner jüngeren Brüder – ich kann das heute nicht mehr sagen – zu mir und schreit: »Du musst schnell weg, die Russen sind hier und nehmen alle Männer mit.«
Ich bin dann geflohen, zunächst nach Pommern und von dort nach Westfalen, wo meine Tante verheiratet war, und habe als 16-jähriger junger Mann über ein Jahr in der Grube gearbeitet. Mit mir geflohen ist ein jungverheirateter Mann, der hatte ein kleines Kind. Der ist erst nach Jahren wieder zurückgekommen und hat die Frau mit dem kleinen Kind ganz allein zurücklassen müssen. So waren die Zustände damals. Die Russen sind ungefähr hundert Kilometer in Ostpreußen eingedrungen. Meine Mutter hat das alles mitgemacht, der Vater auch. Er war schon älter und so haben sie ihm nichts getan. Und mein zweiter Bruder musste die ganze Zeit in der Scheune oben im Stroh sitzen. Nur nachts kam er runter und hat gegessen. Inzwischen drängte Hindenburg die Russen aus Ostpreußen raus. Da bin ich zurückgekehrt und habe eine Arbeit bei der Post angenommen.
August Urban, geb. 1896:
Ich habe die Mobilmachung in Hamburg auf dem Jungfernstieg erlebt. Die Menschen haben sich alle umarmt, gingen auf der Breiten Straße auf und ab und sangen patriotische Lieder, das »Deutschlandlied«, »Die Wacht am Rhein«. Dabei konnte ich mir gar nicht vorstellen, was so ein Krieg in dieser Zeit bedeuten würde. Im Alsterpavillon spielte an diesem heißen Sommertag die Kapelle. Die Menschen haben rauf und runter mitgesungen. Dann hieß es, dass wir zum österreichischen Konsulat, das an der Moorweide lag, ziehen wollten. Da bin ich dann auch mitgewesen. 1914 war die Begeisterung unter den jungen Leuten, den Studenten, die doch alle deutsch-national erzogen worden waren, noch groß. Der Professor sagte: »Wer meldet sich freiwillig? Alle! Habe nichts anderes erwartet, meine Herren.«
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