Die Ziege meckerte und sträubte sich, als Eli sie am Strick aus dem Stall führte. Sie wollte die Wärme bestimmt nicht verlassen und auf den Abend zu nach draußen gehen, obendrein mit dieser fremden Person. Die Ziege ahnte die Gefahr und widersetzte sich. Ziegen sind klüger, als man gemeinhin glaubt, und weitaus zäher als manch anderes Tier, was für Eli ein Glück war.
Hildur zeigte Eli, wo sie dem Fluss Glåma nach Norden folgen konnte, dort gab es Höfe mit Leuten, alles würde in Ordnung gehen, jetzt, wo sie die Ziege hatte.
Leider erinnert die Szene in vielem an die Wanderung der sieben kleinen Heimatlosen aus dem gleichnamigen Film, es fällt schwer, dem Herzzerreißenden dieses Bildes nicht zu erliegen, die Röcke steif vom Schneematsch, der Bauch zum Himmel gewölbt und an einem Seil hinter ihr die meckernde Ziege.
Um zu überleben, hat sie in diesem Moment wohl an nichts Besonderes gedacht. Die Energie benötigte sie weiß Gott für anderes. Die Tragödie in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen war nichts, was ihr jetzt helfen würde. In Schock und schwerer Bedrängnis werden entbehrliche Seelenbewegungen ausgeschaltet, so ist es, und so war es auch damals. Die Ziege taufte sie Hildur. Dann ging sie stur weiter und dachte über den Namen ihrer Ziege nach, ob er eine Ehrung oder eher Hohn war, sie wusste es wohl selbst nicht, lustig fand sie ihn bestimmt. Still jetzt, Hildur, ich weiß, was du von der Sache hältst, das geht vorbei, morgen hast du deinen Stall und all deine Ziegenfreundinnen vergessen.
Sie wanderte fast zehn Kilometer. Die Dämmerung brach herein, und Wind war aufgekommen. Der stille Schneefall verwandelte sich immer mehr zum peitschenden Eissturm, der die Wärme aus den Kleidern fegte. Ihre Gesichtshaut war steif und gefühllos geworden, auch die Hände waren gefühllos, aber die Füße waren warm, gesegnet seien die Strohschuhe über den Stiefeln, selbst wenn sie beim Gehen etwas hinderlich sind.
Auch jetzt dachte sie an nichts Besonderes, wollte nur von Flisa weg, damit Hildur sich ihrer nicht schämen musste. Und außerdem hatte sie eine Ziege, die Milch gab, und die Zeiten waren hart.
Doch obwohl sie so kaltblütig und realistisch war, geschah etwas in ihrer Seele, die sich ganz darauf eingestellt hatte, zu Hildur heimzukommen. Wenn nötig, können Tiere und Menschen Sterben und Gebären hinauszögern. Unbewusst hatte Eli sich dem, was kommen musste, widersetzt.
Nun erfolgte die Reaktion, aber nur körperlich. Was ihre Gedanken anging, dachte sie klugerweise nur an das Allernächste, für eine Nacht kann ich mit der Milch der Ziege bezahlen, und morgen wird sich schon etwas finden, ich kann nach Østby zurückkehren, die werfen mich nicht raus, ich kann zu diesem Kanalbau wandern und Martin zur Verantwortung ziehen, alles wird bestimmt besser, wenn nur erst Zeit vergeht.
Das Kind kam in ihren Gedanken nicht einmal vor. Und in ihrem Ränzel gab es nichts zum Wickeln oder anderes für einen Säugling. In ihrem Inneren weigerte sie sich zu begreifen, trotz der Kindsbewegungen und allem Sonstigen, in ihrem Bauch war nur etwas durcheinander, ungefähr so kam es ihr vor, und die Ursache dafür war Martin. Gewiss trug sie ein Kind in sich, einmal sagte sie es sogar. Aber was die Sache selbst betraf, darüber zerbrach sie sich nicht den Kopf, ihr Hirn weigerte sich, die Konsequenzen einzugestehen. Es konnte nicht sein. Es ging ganz einfach nicht. Außerdem war sie doch erst achtzehn Jahre alt. Natürlich stimmte etwas nicht. Wenn sie nur erst diesen Bauch loswurde!
Die Häuser waren seit langem immer spärlicher geworden, ihre Tante hatte aber gesagt, das ganze Tal entlang lägen Höfe und Katen verstreut. Der Weg war breit und von Schlitten festgefahren, noch gedachte Eli kein Nachtquartier zu suchen.
Zu jener Zeit wies man auch keinen Wanderer ab, der spät abends eintraf, es gab keinen Grund, Verdacht zu schöpfen. Eli wollte es weit schaffen, wollte weit weg, sie mühte sich vorwärts, obgleich die am Strick hängende Hildur das Unternehmen mit meckerndem Protest kommentierte.
Doch dann bekam Eli heftige Schmerzen im Bauch, oder war es im Rücken? Es kam ihr fast so vor. Sie blieb auf der Spur einer Pferdefuhre stehen, mitten zwischen den Abdrücken der Schlittenkufen, wie ungelegen, es tat so unglaublich weh. Aber nach einer Pause konnte sie weiterwandern.
Es war wohl nur was Vorübergehendes. Im Übrigen wanderte sie zwar am Fluss entlang, konnte aber im Tal vor ihr nirgendwo auch nur das kleinste Licht entdecken, und es war lange her, dass ihr eine Schlittenfuhre oder ein Wanderer begegnet war.
Als der Schmerz das nächste Mal zuschlug, war er so ausdauernd, dass er sie in die Knie zwang. Sie wimmerte. Doch nur Hildur hörte sie, und die schwieg ausnahmsweise und zog auch nicht am Strick.
Als sie wieder zur Besinnung kam, waren die Tränen an ihren Wimpern zu Eis gefroren. Langsam verging der Schmerz. Sie griff nach Hildur, stützte sich auf sie, kam auf die Füße.
Jetzt verstand sie, dass Eile geboten war. Wenn die Schmerzen wiederkehrten, kam es darauf an, nicht nachzugeben, sich nicht hinzulegen, das begriff Eli, und Hildur stimmte ihr eifrig zu, instinktiv – sie brauchten ein Dach überm Kopf, was war denn das hier für eine Geschichte, in finsterer Nacht durch die Gegend zu ziehen! Hildur sträubte sich nicht länger, sondern trippelte vor Eli in der Spur.
Doch dann war plötzlich Schluss, Hildur weigerte sich, auch nur einen Meter weiterzugehen, die Klauen in den Schnee gestemmt, als sei sie festgewachsen. Wenn Eli sie mitnehmen wollte, musste sie die Ziege anscheinend tragen, Schläge und Tritte halfen ebenfalls nichts, obwohl sie schalt und schrie. Im selben Augenblick traf sie erneut der Schmerz.
Nicht hinlegen, war das Einzige, was sie dachte, während Schwerter und Messer ihre Eingeweide durchbohrten, sie stöhnte, wimmerte und sank wieder auf ihre steifen, kalten Knie.
Ihr wurde schwarz vor Augen, bevor sie wieder zur Besinnung kam. Wo war sie gewesen? Ein Blitzeinschub vom Todesreich? Sie war matt, und kalter Schweiß klebte an ihrem Körper, als sie wieder auf die Beine kam. Hildur meckerte, aber weigerte sich immer noch weiterzugehen. Keuchend stand Eli vornüber gebeugt da.
Plötzlich sah sie etwas – was war das? Ein Pfad direkt zwischen die Bäume hinein?
Zögernd schlug sie ihn ein. Und Hildur setzte sich in Bewegung, folgte ihr, Eli nahm das als Zeichen.
Es war kein Schlittenweg, nur ein schmaler Trampelpfad, kaum sichtbar jetzt unter dem kürzlich gefallenen Schnee. Es war auch schwierig, ihm zu folgen, da es zwischen den Bäumen noch dunkler wurde. Doch wenn Eli falsch lief, korrigierte sie die Ziege. Also ließ sie das Tier vorangehen.
Es führte aufwärts, wo immer es auch hinführen mochte. Die Steigung ließ sie warm werden, sie beschwor das Übel, es sollte sie nicht wieder überfallen, bevor sie angekommen wäre, sie hoffte und glaubte, dass der Pfad zu einem Hof ging, und so war es auch.
Sie verspürte Rauchgeruch und war erleichtert, ja fast glücklich, bevor eine neue Attacke einsetzte. Und jetzt bepinkelte sie sich wohl gar, es lief feucht die Beine hinunter, in die Strümpfe und Stiefel. Das alles war ein Elend, trotzdem musste sie jetzt dorthin gehen.
Das Haus war nur eine Hütte, nicht unähnlich der Erdhöhle, in der sie als Kind gedient hatte. Und man sparte an Beleuchtung, im Fenster war kein Licht zu sehen.
Wieder half ihr die Ziege, indem sie laut und durchdringend meckerte.
Vorsichtig wurde die Tür geöffnet: Was höre ich da?
Er lachte, als er die Ziege erblickte. Und ein einsames Mädchen, worum ging es?
Sie wünschte zu übernachten, falls sich das machen ließe, sie könne bezahlen. Wenn Ziegenmilch gut genug wäre.
Sie durfte ins Haus kommen, auch die Ziege. Sie wärmte sich am Herd, es war schummrig in der Hütte. Er nahm Eli in Augenschein. Aha, so stand es.
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