Der Abend kam; aber nicht Bertina.
Die grosse Standuhr im Saal schlug die neunte Stunde — tickte träge weiter und schlug die zehnte Stunde. Was mochte das bedeuten? Herr Erling klingelte und bestellte Whisky und Sodawasser; er sass in seiner reichverzierten Rauchjacke in einem braunen Lederstuhl gleich einem andern General. Die Zigarette hing ihm an der Unterlippe, er blätterte in einem Buch und war ungeheuer vornehm. Aber nichts von Bertina.
„Das Mädchen von Mykja soll das Zimmer neben der Treppe haben.“
Marlene antwortet und gibt sich kaum Mühe, ihre Schadenfreude zu verbergen: „Bertina hat sich noch nicht gemeldet. Und ich kann es ebenso gut gradeheraus sagen: Bertina wird sich hier nicht zeigen.“
„Das meinst du wohl nicht im Ernst.“
„Ob ich es meine? Hab’ ich vielleicht nicht gleich daran gezweifelt, als Sie heute morgen davon sprachen?“
„Nein, wie du prahlen kannst!“ ruft Herr Erling ärgerlich.
„So? Ich kenne Bertina seit jeher. Ist sie vielleicht nicht sonderbar und unnatürlich? Leif von Sudalen gilt als ihr Liebster ... Schon als kleines Mädchen war sie ein wenig verrückt ...“
„Nein, du Marlene — war sie verrückt?“
„Wurden wir, ich und Bertina, denn nicht am gleichen Tage und im gleichen Wasser getauft? Aber sie war alle ihre Tage steif im Nacken und lang im Stroh. Niemals zeigte sie sich abends auf der Landstrasse, wenn die Jugend tanzte ...“
Voller Unwillen sagt Herr Erling: „Und dann hängte sie sich also an einen ganz gewöhnlichen Burschen — wie nanntest du ihn?“
„Leif — ja, das ist genau so mystisch wie alles übrige. Ein rabiater Kerl ist dieser Leif. Er betreibt den Gaard von Sudalen — ein Rattengaard: vier Kühe, ein Schwein, sechs Schafe, und Schulden mehr als genug ...“
„Nun ja“, nickte Herr Erling. „Es ist gut.“
„Soll ich heisses Wasser auf ihr Zimmer stellen?“ fragte Marlene, die grosse Lust hatte, das Gespräch fortzusetzen.
Doch Herr Erling winkte nur mit der Hand; Marlene warf den Kopf in den Nacken und ging. Bei der Tür zögerte sie, blickte über die Schulter zurück. Nein, Herr Erling machte kein Zeichen; er blätterte wieder in seinem Buch, und die Zigarette baumelte an seiner Unterlippe. Sicherlich sass er in andern Gedanken.
Hatte Marlene sich verplappert und zuviel gesagt? Keine Spur. Marlene hätte weit mehr verraten können, und sie bereute kein Wort ...
Zu dieser Stunde erhob sich der Bauer Asbjörn hinter dem Küchentisch auf Mykja, fuhr mit seinen grossen Händen über sein struppiges Gesicht, gähnte laut. „Was wollte er eigentlich heute morgen von dir, Herr Erling?“
Die Tochter antwortete leichthin: „Er wollte im Grunde gar nichts.“
Darauf ging der Pächter in die Kammer und legte sich ins Bett. Bertina holte ein feines Tuch aus der Truhe, zog die Lampe zu sich heran und begann zu sticken. Einmal stand sie auf und öffnete das Fenster, lauschte hinaus und schloss es wieder.
Es war eine schwüle Sommernacht.
Das Leben auf Mykja ist sowohl einfach als einsam.
Der Gaard liegt in einem engen Tal, zwischen Felsen und Wäldern. Ein Bächlein rennt eilig von der Höhe nieder und plätschert über unzählige glatte, grüne Steine. Selten hört man einen andern Laut über Mykja als das Gemurmel des Baches, das dunkle Rauschen der Wälder und das Gebrüll der Kühe.
In den nächsten Tagen wurde es ein wenig lebhafter auf Mykja. Erstens erschien der junge Hofbauer Leif von Sudalen, winkte Bertina vors Haus und war rasend: „Ist jetzt die Reihe an dich gekommen?“ fragte er.
„Was fehlt dir?“ fragte Bertina auf ihre gelassene Weise.
„Beim Hunde“, sagte Leif düster, „jetzt hilft dir das Lügen wenig. Denn ich habe alles erfahren.“
„Ich weiss nicht, wovon du sprichst. Und wenn du etwas erfahren hast, so hast du es von Marlene erfahren ... Aber ich kümmere mich nicht im geringsten darum.“
Leif war so aufgebracht, dass er nicht ruhig stehen konnte, sondern immerzu auf und nieder hüpfte. „Gott und jedermann weiss es ja schon ... Aber ich, Mädchen, ich werde es niemals dulden — verstehst du?“ Er zog ein Messer unter der Jacke hervor: „Schau dir einmal dieses an ...“
Sicherlich war es weder fein noch klug von Leif, sich gleich am Anfang so ungebärdig zu benehmen. Damit verdarb er sich selber das Spiel. Nun hatte doch Bertina vor kurzem ihr seltsames Erlebnis gehabt. Sie brauchte nur die Augen zu schliessen, dann brannte Herrn Erlings Kuss immer wieder aufs neue auf ihren Lippen, und sie hörte seine einschmeichelnde Stimme ... Ohne dass es ihr bewusst ward, schloss sie die Augen, verglich Leifs Stimme und Herrn Erlings Stimme und seufzte.
„Ich verbiete es dir — basta!“ rief Leif. „Und wenn es darauf ankommt, rede ich persönlich ein Wörtlein mit ihm, verstehst du?“
Bertina öffnete ihre Augen wieder, betrachtete den hüpfenden Leif und fragte: „Wie — du willst mit ihm reden?“
„Ho — oder vielleicht nicht?“ rief Leif, indem er mit seinem Messer in der Luft herumfuchtelte.
„Steck dein Messer weg“, sagte darauf Bertina. „Und deine Grobheiten will ich nicht länger anhören. Geh nur gleich wieder über den Berg ...“
Sie unterhielten sich eine Weile. Ein offener Streit wurde im Grunde nicht daraus. Doch die ganze Bertina war zweifellos nicht mehr so, wie sie vor kurzem gewesen. Sie hatte jetzt eine besondere Art, Leif lange und allzu aufmerksam zu betrachten, und ihr Blick war kühl. Fast schien es so, als rücke Leif in die Ferne.
Leif in seinem Zorn glaubte, ein böser Geist habe von Bertina Besitz ergriffen. „Und warum, zum Satan, hast du auf einmal dieses Schillern in deinen Augen? ... Warte nur!“
Bertina tut nun etwas Merkwürdiges: Sie streckt Leif ihre beiden Hände hin: „Was siehst du, Leif?“
Gierig und blutdürstig beugt Leif sich darüber. Weil er aber keinen verdächtigen Ring an ihren Fingern findet, knurrt er ärgerlich: „Nichts als Narrheiten hast du in deinem Kopf ...“
„Oh — du Leif ...“
„Hier stehe ich und frage: Willst du mit ihm brechen oder nicht?“
„Oh — du Leif!“
Ihr unverhüllter Spott reizt ihn noch mehr. Er erklärt: „So viel sehe ich mit eigenen Augen, dass er dir den Kopf verdreht hat. Und ich kenne dich nicht wieder, so verändert, wie du auf einmal bist.“
Dieses kleine Gespräch wurde hinter der Scheune geführt, am Steinwall, der die Hauswiese von der Wildmark trennt. In unbegreiflichem Übermut schwang Bertina sich auf den Steinwall und tat abermals etwas Merkwürdiges: Sie selber betrachtete ihre Hände; strich sachte mit der einen über die andere hin, bog die geschmeidigen Finger zurück. Es war so, als sehe Bertina an diesem Abend zum erstenmal ihre Hände und als freue sie sich an dem Anblick.
Leif freute sich nicht, sondern folgte dem sonderbaren Vorgang mit wachsendem Unbehagen. „Ja, jetzt glaube ich, bist du ganz verrückt geworden“, meinte er verblüfft.
Wie hätte der arme, einfältige Leif dieses begreifen können? Sicherlich hatte er nie etwas vernommen von Prinzessinnenhänden und solchen Dingen. „Zur Hölle mit dem verdammten jungen Affen!“ rief er plötzlich wild. „Aber bald geht er ja ohnedies von selber kaputt. Haha — ist er denn nicht eben daran, Bankrott zu machen ...?“
Aus schmalen Schlitzen wirft Bertina einen besonders langen und geradezu unheimlichen Blick auf Leif, auf die Gestalt, die mit beiden Armen fuchtelnd vor ihr hin und her rennt. „Wahrhaftig — fährt er immer noch da herum“, sagt sie leise. — „So geh endlich. Du musst doch verstehn, dass ich dein Geschwätz nicht länger anhören mag.“
„Himmel und Ozean!“ ruft Leif und knirscht furchtbar mit den Zähnen. Ja, er tritt an die Mauer heran und reisst vor Wut das Moos aus den Steinen. Für ihn wird es keine Kleinigkeit, ein Mädchen wie Bertina zu verlieren.
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