Auf seinen Wanderungen kam der Stamm oft in die Nähe der stillen, verschlossenen Hütte an der kleinen Bucht. Tarzan hätte gar zu gerne gewusst, welches Geheimnis darin verborgen war.
Er versuchte zwar, durch die Fenster zu schauen, aber sie waren verhängt. Dann dachte er daran, auf das Dach zu klettern, um durch den Kamin hinunterzukommen, vielleicht könnte er auf diese Weise erfahren, welche Wunder innerhalb dieser Wände verborgen waren.
In seiner kindlichen Einbildung stellte er sich allerlei merkwürdige Dinge vor, die darin enthalten sein müssten, und je mehr er einsah, dass er nicht ohne weiteres hineingelangen könne, desto lebhafter wurde sein Wunsch, das Rätsel zu lösen.
Er kletterte stundenlang um das Dach und die Fenster herum, um ein Mittel zu entdecken, sich Eingang zu verschaffen, aber auf die Tür achtete er nur wenig, denn sie schien ihm ebenso fest zu sein, wie die Wände der Hütte.
Kurz nachdem er das Abenteuer mit Sabor erlebt hatte, kam er wieder in die Nähe der Hütte. Da schien es ihm, als ob die Tür ein unabhängiger Teil der Wand sei, in die sie eingesetzt war, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass dies der Weg sei, ins Innere zu gelangen, nach dem er so lange vergeblich gesucht hatte.
Er war allein, wie schon so oft, wenn er die Hütte aufsuchte, denn die Affen hatten eine Abneigung dagegen. Die Geschichte von dem Donnerstock hatte in diesen zehn Jahren nichts an Schrecken verloren, und sie umgab noch immer die verlassene Wohnung des weißen Mannes mit einer für die Affen unheimlichen Atmosphäre.
Niemand hatte Tarzan erzählt, in welcher Beziehung er selbst zu der Hütte stand. Die Sprache der Affen ist so wortarm, dass sie nur wenig darüber berichten konnten, was sie in der Hütte gesehen. Sie hatten auch keine Worte, um die seltsamen Leute und ihre Sachen zu beschreiben, und so kam es, dass, als Tarzan alt genug war, um zu verstehen, die Sache längst vom Stamm vergessen war.
Nur in einer ganz unklaren und unbestimmten Weise hatte Kala ihm erklärt, dass sein Vater ein seltsamer, weißer Affe gewesen sei, aber er wusste nicht, dass Kala nicht seine Mutter war.
An diesem Tage nun ging er sofort auf die Tür zu, untersuchte sie stundenlang und machte sich an den Scharnieren, am Knopf und an der Klinke zu schaffen. Schließlich fand er den richtigen Griff, und vor seinen erstaunten Augen sprang die Tür knarrend auf.
Zuerst wagte er sich nicht hinein, aber als seine Augen sich allmählich an das Halbdunkel im Innern gewöhnt hatten, betrat er langsam und vorsichtig den Raum.
In der Mitte lag ein Skelett auf dem Boden. Das Fleisch war von den Knochen vollständig verschwunden; nur die vermoderten Überreste der Kleider hingen noch daran. Auf dem Bette lag ein ähnliches, grauenhaftes, schmäleres Gerippe, während daneben in einer Wiege ein drittes, winziges Skelett lag.
Tarzan warf nur einen flüchtigen Blick auf diese Zeugen einer furchtbaren Tragödie. Sein wildes Dschungelleben hatte ihn an den Anblick toter und sterbender Tiere gewöhnt. Auch wenn er gewusst hätte, dass er auf die Überreste seiner Eltern blickte, so wäre er nicht gerührter gewesen.
Die Möbel und der übrige Inhalt des Raumes fesselten seine Aufmerksamkeit mehr. Er besichtigte manche Dinge minutenlang, das fremdartige Handwerkszeug, die Waffen, die Bücher, Papier und Kleider, die den Verheerungen der Zeit in der feuchten Luft der Dschungelhütte nur wenig widerstanden hatten.
Er öffnete Kasten und Schränke, die ihm völlig neu waren, und in diesen fand er den Inhalt viel bester erhalten. Unter anderem entdeckte er ein scharfes Jagdmesser, mit dem er sich schon gleich in den Finger schnitt. Das hinderte ihn aber nicht, weitere Versuche damit anzustellen, und er fand, dass er mit seinem neuen Spielzeug Holzsplitter vom Tisch und von den Stühlen abschneiden konnte. Das amüsierte ihn eine ganze Weile, aber schließlich wurde er dessen überdrüssig, und er setzte seine Nachforschungen fort.
In einem mit Büchern gefüllten Schrank fand er eine Kinderfibel mit schönen farbigen Bildern, die seine Neugier aufs höchste erregten.
Da gab es mancherlei Affen, die ein ähnliches Gesicht hatten, wie er, und gleich beim ersten Buchstaben A fand er auch kleine Affen, wie er sie täglich im Urwalde auf den Bäumen umherklettern sah. Aber nirgends fand er im Buch ein Bild von seinem eigenen Volk, kein Bild von Kerschak, Tublat oder Kala.
Zuerst versuchte er, die kleinen Figuren von den Blättern wegzunehmen, aber bald sah er, dass sie nicht lebend waren, obschon er nicht wusste, was sie eigentlich seien und er auch keine Worte hatte, sie zu beschreiben.
Die Schiffe und Eisenbahnzüge, die Kühe und Pferde, die er im Buch sah, waren ganz sinnlos für ihn, da er sich nicht vorstellen konnte, was das sein mochte, aber noch viel weniger konnte er begreifen, was die Buchstaben sein sollten, diese kleinen Dinger, die sich unter und zwischen den farbigen Bildern befanden. Er dachte, es könnte eine seltene Art Käfer sein, denn viele von ihnen hatten Beine, obgleich nirgends Augen oder ein Mund zu sehen war.
Das war also Tarzans erste Bekanntschaft mit den Buchstaben des Alphabets, und dabei war er schon über zehn Jahre alt! Natürlich hatte er nie etwas Gedrucktes gesehen, hatte auch nie mit einem lebenden Wesen gesprochen, das etwas von dem Vorhandensein einer geschriebenen Sprache wusste. Auch hatte er noch nie jemand lesen gesehen.
Es war also kein Wunder, dass der Junge den Sinn der seltsamen Figuren nicht erraten konnte.
Gegen die Mitte des Buches fand er seine alte Feindin, die Löwin Sabor, und weiter sah er Histah, die Schlange, sich winden.
O, das war sehr interessant! Niemals in all diesen Jahren hatte er sich über etwas so gefreut. Er war so vertieft in die Betrachtung der Bilder, dass er nicht bemerkte, wie die Dunkelheit hereinbrach, bis er die Figuren nicht mehr deutlich unterscheiden konnte.
Er legte das Buch in den Schrank zurück und schloss die Tür, denn er wollte nicht, dass sonst jemand seine Schätze finden und zerstören sollte. Als er in die Abenddämmerung hinausging, schloss er die Tür der Hütte so hinter sich zu, wie sie war, ehe er das Geheimnis der Hütte entdeckt hatte. Zuvor aber hatte er noch das Jagdmesser vom Boden aufgehoben, um es seinen Kameraden zu zeigen.
Er war noch kaum zwölf Schritte gegangen, als sich aus dem Schatten eines Gebüsches vor ihm eine große Gestalt erhob. Zuerst dachte er, es sei einer von seinem eigenen Volke, aber dann erkannte er plötzlich Volgani, den Riesen-Gorilla.
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