Als Tarzan heranwuchs, machte er schnellere Fortschritte, sodass er mit zehn Jahren ein vorzüglicher Kletterer war, und auf der Erde konnte er so wundervolle Dinge ausführen, wie sie seine kleinen Brüder und Schwestern nicht fertig bekamen. In manchen Dingen unterschied er sich von ihnen, und sie staunten oft über seine überragende Geschicklichkeit, aber in Bezug auf Kräfte und Wachstum war er sehr zurückgeblieben, denn mit zehn Jahren waren die großen Menschenaffen voll erwachsen; manche von ihnen waren über sechs Fuß hoch, während der kleine Tarzan erst ein halberwachsener Knabe war.
Und doch — was für ein Junge war er!
Von frühester Jugend an hatte er seine Hände darin geübt, sich nach dem Beispiel seiner Riesenmutter von Ast zu Ast zu schwingen, und als er größer wurde, verbrachte er ganze Stunden damit, mit seinen Brüdern und Schwestern von einer Baumkrone zur anderen zu klettern.
Er konnte in der schwindelnden Höhe der Baumkronen zwanzig Fuß weit springen und mit unfehlbarer Genauigkeit einen vom Wirbelsturm bewegten Ast ergreifen.
Er konnte sich zwanzig Fuß tief in raschem Abstieg von Ast zu Ast herunterfallen lassen, und er konnte den höchsten Gipfel des stolzesten tropischen Riesen mit der Schnelligkeit eines Eichhörnchens erklettern. Obschon er erst zehn Jahre zählte, war er kräftig wie ein Durchschnittsmensch von dreißig Jahren und behänder als die meisten geübten Athleten es je werden. Und seine Kräfte wuchsen von Tag zu Tag.
Sein Leben unter diesen wilden Affen war glücklich, denn in seiner Erinnerung gab es kein anderes Leben; auch wusste er nicht, dass es im Weltall außer diesem Wald und den Dschungeltieren, mit denen er vertraut war, noch etwas anderes gab.
Er war schon fast zehn Jahre alt, als er anfing, zu erkennen, dass ein Unterschied zwischen ihm und seinen Kameraden bestand. Sein kleiner, von der Sonne gebräunter Körper verursachte ihm plötzlich ein tiefes Schamgefühl, denn er erkannte, dass er vollständig unbehaart war, wie eine Schnecke oder ein Reptil.
Er versuchte diesem Übelstand abzuhelfen, indem er sich von Kopf bis zu den Füßen mit Lehm bekleidete, aber dieser trocknete und fiel ab. Außerdem fühlte er sich so unbehaglich dabei, dass er sich lieber schämte, als die Unbequemlichkeit weiter auf sich zu nehmen.
In dem höher gelegenen Landstrich, in dem sich sein Stamm aufhielt, war ein kleiner See und in dessen klaren stillen Wasser sah Tarzan zuerst sein Spiegelbild.
An einem schwülen Tag der trockenen Jahreszeit ging er mit einem seiner Vettern an das Ufer, um zu trinken. Als sie sich hinüberbeugten, spiegelte die ruhige Fläche beider Gesichter wieder: die wilden, schrecklichen Gesichtszüge des Affen, neben denen des aristokratischen Sprösslings eines alten englischen Hauses.
Tarzan war entsetzt. Es war schon schlimm genug, unbehaart zu sein, aber wie konnte er nur eine solche Gesichtsbildung haben! Er wunderte sich, dass die anderen Affen ihn überhaupt noch ansahen.
Dieser kleine Schlitz von einem Mund und diese winzigen, kleinen Zähne! Wie kümmerlich sahen diese aus neben den mächtigen Lippen und den gewaltigen Fängen seiner glücklicheren Brüder! Und diese kleine, schmale Nase, so dünn, dass sie halb verkümmert aussah. Er errötete, als er sie mit den schönen, breiten Nüstern seines Gefährten verglich. Welche großartige Nase! Sie bedeckte ja das halbe Gesicht. Es muss doch gewiss schön sein, so stattlich auszusehen, dachte der arme kleine Tarzan.
Aber als er in seine eigenen Augen sah, da war er noch mehr entsetzt: ein brauner Fleck, ein grauer Kreis, und dann reines Weiß! Fürchterlich! Die Schlangen hatten nicht einmal so hässliche Augen wie er.
Er war so sehr in die Betrachtung seiner Gesichtszüge vertieft, dass er nicht hörte, wie das hohe Gras sich hinter ihm teilte und ein großer Körper sich verstohlen durch den Dschungel schlich. Auch sein Kamerad, der Affe, hörte nichts, denn er trank, und das Geräusch seiner saugenden Lippen und das Gurgeln übertönten die leisen Schritte des Eindringlings.
Keine dreißig Schritte hinter den beiden duckte sich Sabor, die Riesen-Löwin, indem sie den Schwanz hin und her warf. Vorsichtig bewegte sie ihre große Tatze vorwärts, und sie setzte sie geräuschlos nieder, ehe sie die andere hob. So schlich sie näher. Ihr Bauch berührte fast den Boden. Sie glich ganz einer großen Katze, die den Sprung auf ihre Beute vorbereitet.
Jetzt war sie bis auf etwa zehn Fuß an die zwei kleinen, ahnungslosen Spielkameraden herangekommen. Sorgfältig zog sie ihre Hinterfüße unter ihren Körper, während die starken Muskeln sich sichtlich unter dem herrlichen Fell bewegten.
Sie lag fast flach auf der Erde. Nur die obere Krümmung des glänzenden Rückens war sichtbar, als sie sich zum Sprunge anschickte.
Nun wedelte sie nicht mehr mit dem Schweife; ruhig und gerade lag er hinter ihr.
Einen Augenblick hielt sie inne, als ob sie in Stein verwandelt wäre, und dann sprang sie mit einem schrecklichen Schrei auf. Nun hätte man denken können, das wäre von ihr unklug gehandelt, denn ohne diesen Schrei hätte sie sicherer über ihre Opfer herfallen können. Aber Sabor, die Löwin, war eine kluge Jägerin. Sie kannte das unglaublich feine Gehör und die erstaunliche Schnelligkeit des jungen Dschungelvolkes, und sie wusste, dass sie den mächtigen Sprung nicht ohne Geräusch ausführen konnte. Der wilde Schrei aber sollte nicht eine Warnung sein, sondern die armen Opfer vor Schrecken lähmen, wenn auch nur für eine Sekunde, die ihr genügte, um ihre gewaltigen Krallen in das weiche Fleisch zu schlagen und sie am Entfliehen zu verhindern.
Was den Affen betraf, so war ihr Kunstgriff richtig. Der kleine Kerl duckte sich einen Augenblick zitternd, und dieser Augenblick wurde zu seinem Verderben.
Anders war es mit Tarzan, dem Menschenkind. Sein Leben inmitten der Gefahren des Dschungels hatte ihn gelehrt, unerwarteten Vorfällen mit Selbstvertrauen zu begegnen, und die Folge seiner höheren Geisteskräfte war ein schnelles Denken, das weit über den Fähigkeiten der Affen stand.
So regte der Schrei der Löwin das Hirn und die Muskeln des kleinen Tarzan zum augenblicklichen Handeln an.
Vor ihm lag das tiefe Wasser des Sees, hinter ihm der sichere Tod, ein grausamer Tod unter den Klauen und zwischen den Fängen der Löwin.
Tarzan hatte einen Abscheu vor dem Wasser, soweit es nicht dazu diente, seinen Durst zu stillen. Seine wilde Mutter hatte ihn auch gelehrt, das tiefe Wasser des Sees zu meiden, und hatte er nicht erst vor einigen Wochen die kleine Reeta unter der glatten Fläche versinken sehen, sodass sie nie wieder zu ihrem Stamm zurückkehrte?
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