Aus der ferne erinnerte die fjälllandschaft an eine Postkarte. Alles war dekorativ.
Als der Bus aus Gällivare sich Kebnats näherte und die Berge uns zu beiden Seiten umgaben, veränderte sich das Bild. Ich war überrascht von einer ungewöhnlichen Tiefenschärfe, die anderen Gesetzen zu folgen schien. Jeder Ausblick barg ein optisches Phänomen. Es erstaunte mich, wie deutlich ich aus sehr großer Entfernung die Konturen wahrnehmen konnte. Trotzdem war es unmöglich, Abstand, Größe und Form einzuschätzen. Zwei Hügel, die dicht beieinanderzuliegen schienen, waren in Wirklichkeit durch einen großen See getrennt. Der eine war eine kleine Erhebung neben der Straße, der andere ein Gebirgsmassiv zehn Kilometer weiter weg.
Die Berge verwandelten sich, wenn man sich ihnen näherte. Ein gleichmäßiger hellgrüner Hang entpuppte sich mal als undurchdringliches Weidendickicht, mal als steiniger, unwegsamer Abhang oder als Wiese mit Heidekraut und anderen Kriechpflanzen in Schattierungen von Grün, Rostbraun, Gelb, bis hin zu Rot.
Es war bemerkenswert, wie greifbar man das Hineinfahren in die Fjällandschaft erlebte. Ich wurde von einer Welt umschlossen, deren Proportionen mir völlig fremd waren.
Erst bei der Überfahrt nach Saltoluokta auf einem soliden Schiff, das schlecht in die wilde Umgebung paßte und dessen Passagiere eine Handvoll Wanderer und ein paar junge Lappen mit Hunden und Handgepäck waren, fiel mir flüchtig mein «Auftrag» ein. Allein der Gedanke erfüllte mich mit Widerwillen und einem so übermächtigen Gefühl von Unwirklichkeit, daß mir schwindelte und ich meinen Kopf mit beiden Händen umfaßte. Ich verdrängte den Gedanken, so gut es ging.
Die Fjällstation von Saltoluokta war ein rustikales Holzgebäude inmitten von Dickicht und Zwergbirken. Auf der Treppe vor dem Haupteingang, von wo aus man eine schöne Aussicht über den See hatte, stand ein älterer Wanderer und sprach mit einem Lappen über die Niederschläge von Tschernobyl. Ich kam auf dem Weg zum Duschraum im Keller an ihnen vorbei – es würde für lange Zeit die letzte Dusche sein, soweit ich verstanden hatte. Der Lappe sagte, jetzt werde er aufgeben. Man könne gegen Behörden, gegen Kraftwerkunternehmen, gegen Wind und Wetter kämpfen. Aber nicht gegen etwas, das sich Tausende von Kilometern weit entfernt bildete, unsichtbar war und vom Himmel fiel.
Ich verließ Saltoluokta und folgte dem Wanderweg Kungsleden nach Süden, einen Kilometer hinauf durch den Zwergbirkenwald. Dann bog ich nach Westen ab. Der Himmel war wechselnd bewölkt, und es war angenehm kühl. Trotzdem war ich aufgrund der Steigung bald naßgeschwitzt. Durch das enorme Gewicht des Rucksacks fühlte ich mich klobig und unbeweglich. Gleichzeitig merkte ich, daß es durchaus möglich war, auch steile Passagen zu bewältigen, wenn man sich behutsam und mit Bedacht bewegte.
Als ich zum Verschnaufen stehenblieb, war nur mein keuchender Atem zu hören. Die Sonne brach hinter einer Wolke hervor, und jedes Blatt, jeder Grashalm und jede nackte Wurzel traten mit einer Art übersinnlicher Schärfe hervor. Alles war so frisch, daß es aussah, als sei es eßbar. Aber das Fremde war da. Überall. Im Rentierfleisch, in den Pflanzen. Der Gedanke daran war so, als würde man sich selbst entfremdet. Etwas Unbekanntes rieb sich an jeder Sinneswahrnehmung. Es war, als befände man sich in einer einzigen großen Betrügerei.
Ein Stück weiter aufwärts, kurz über der Grenze der Zwergbirken, begegnete ich einem jungen Paar. Sie berichteten, sie seien acht Tage unterwegs gewesen und sehnten sich jetzt nach frischem Gemüse, einem ordentlichen Essen und der Sauna in Saltoluokta.
Gerade als ich den Paß zwischen Lulep Kikau und dem kleinen Gipfel Tjäpurisvaratj erreichte, kam Wind auf. Von der anderen Seite des Sees Pietsaure her zogen dunkle Wolken auf. Ich konnte gerade noch meinen Regenschutz überstreifen, als der Regen schon über mich kam. Bis hinunter zum See waren es knapp zwei Kilometer, und es regnete fast den ganzen Weg. Kurz bevor ich am See ankam, hörte es dann auf. Mitten in der Wolkendecke tat sich ein rundes Loch auf, in dem ich ein Stück hellblauen Himmel entdeckte. Genau dort, wo der Gebirgsbach in den See mündete, bildete sich ein sonnenbeschienener Fleck. Es sah aus wie ein Altarbild. Am Boden dieser schrägen Lichtsäule, einige hundert Meter entfernt, sah ich einen Mann, der sich in dem glitzernden Wasser die Hände wusch. Es war genau die Stelle, wo ich meine Begleiter treffen sollte.
Schlichte neugier ist eine viel stärkere lebenserhaltende Kraft, als man meinen könnte. Der Winter 1986 in Stockholm ist mir als eine einzige dumpfe Geistesabwesenheit in Erinnerung. Doch mitten in alledem brannte eine kleine Neugier, an der ich mich freute. Ich war zu Opfern und Demütigungen bereit, um diese Begierde am Leben zu erhalten. Die Neugier zu befriedigen war nicht mein Anliegen. Ich begnügte mich damit, daß sie vorhanden war.
Ich weiß nicht mehr, an wie vielen Unterrichtsstunden ich teilnahm. Ich bin sicher, daß es mindestens vier, höchstens etwa zehn waren. Nach einer davon, es war nicht die letzte, denn die war etwas ganz Besonderes, bat Usk mich, noch eine Weile dazubleiben. Er stellte sich mit dem Rücken zu mir ans Fenster und fragte, ob ich mit dem Kurs und den Kursteilnehmern zufrieden sei. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe. Vermutlich irgend etwas Triviales. Dann sagte er, ich werde einen Mann kennenlernen, der draußen in einem Wagen wartete. «Er heißt Kelly. Wir dürfen ihn nicht warten lassen.»
Auf der Treppe fragte ich, wer dieser Kelly sei. Usk blieb stehen, legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: «Ein Bekannter von mir. Er gehört zur Peripherie unseres Kreises, wir haben gewisse Berührungspunkte und gemeinsame Interessen. Du brauchst nichts zu sagen. Wichtig ist, daß ihr euch kennenlernt. Mit der Zeit wirst du es verstehen. Beunruhige dich nicht.»
Ich habe eine vage Erinnerung an einen weißen BMW, ein kleines, aber luxuriöses Büro in der Nähe des Humlegården-Parks (vielleicht in der Linnégatan), und einen jungen, kräftigen Mann hinter einem Schreibtisch: blonde, kurzgeschnittene Haare, breites Gesicht, wuchtiger Kiefer, eine Spur von Unterbiß, hellblaue Augen. Er war groß und breitschultrig und strahlte eine Mischung von Jungenhaftigkeit und Brutalität aus.
Usk und Kelly unterhielten sich über etwas, das sie «das Projekt» nannten. Es ging um die Finanzierung, und ich hatte den Eindruck, daß Kelly hinsichtlich der Finanzierung grünes Licht gab.
Im nachhinein wundere ich mich darüber, wie wenig ich von dem Gespräch verstand. Entweder war ich unkonzentriert, oder sie drückten sich in Andeutungen und Gemeinplätzen aus, so daß es schwierig für mich war, den Zusammenhang zu erraten.
Als wir gegen neun Uhr abends Kellys Büro verließen, war meine Neugierde gestillt. Ich hatte gehofft, tiefer in das Mysterium einzudringen, fühlte mich aber lediglich von kindischen Mystifikationen umgeben. Ich war verärgert und wollte nach Hause.
Im Humlegården-Park herrschte tiefster Winter. Die Laternen, die die Wege säumten, beleuchteten eine schöne Parklandschaft, verziert mit einem halben Meter Schnee. Mit kurzen, schlurfenden Schritten bewegten wir uns auf den freigepflügten Wegen, die stellenweise gestreut waren. Die Schneewälle und der Schnee auf den Ästen dämpften Usks trockenes Husten. Rauchwolken quollen aus seinem Mund und zerstreuten sich genauso schnell, wie sie sich gebildet hatten. Er war guter Dinge. Unter einer Laterne blieb er stehen und packte mich am Kragen. «Er macht mit! Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten!» Seine Züge waren starr vor Kälte, und das Lächeln wurde zur Grimasse. Im kalten Schein der Laterne war er häßlicher denn je.
Ich schob ihn weg, angeekelt von seinem Enthusiasmus und seiner grotesken Grimasse. Ich erklärte, ich würde mich auf gar nichts einlassen, wenn er nicht sofort enthüllte, wer Kelly war, welcher Organisation er selbst angehörte und worauf das alles hinauslief. Ich drohte damit, nie wieder in seinem Unterricht zu erscheinen.
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