Hier fand ich die Erklärung, weshalb ich mich ihm mit meinem Ortswechsel nicht anvertrauen wollte. Ich hätte nicht zu befürchten brauchen, daß er mich an irgendeine Stelle verriet. Ich mochte ihm diese Last nicht aufladen. Er hätte sie nicht schätzen können – schon gar nicht als Geschoß, als Kraft gegen ihn, der sich ausschloß, obwohl ihn als Betroffenen meine Befreiungsgedanken einschließen mußten. Ihn konnte ich nicht treffen: da war kein Fleisch ...
Es kostet mich wenig Mühe, mich wieder zu erinnern. Alles ist ja noch Gegenwart. Ich erfinde keine Länder, keine Vorgänge und fast gar keine Personen. Wozu auch? Alles ist im Hüben und Drüben reichlich vorhanden. Wenn ich mich wirklich erinnern wollte, so müßte ich mir sagen, daß ich bis zu jener Zeit sehr einseitig gelebt hatte, nicht in bezug auf meine Ernährung oder Bewegungsweise – genaugenommen komme ich auf nichts anderes zu sprechen als auf meine einseitige (diesseitige) Ernährung und Bewegungsweise!
Ach, es ist eben keine Gegenwart! Ich reise in kein anderes Land, ich spreche mit keinen Personen mit eigenem Willen, eigenen Bedürfnissen und eigenen Gewohnheiten! Eigentlich sollte ich dieses verbotene Land überhaupt nicht mit eigenen Augen anschauen. Ich könnte meinen Frieden in der erlaubten Heimat hier verlieren. Es ist schon verrückt, sich mit dem Vorgefundenen und dem Berichteten nicht zufriedenzugeben. Aber auch die Frage ist herausfordernd: wer denn da von der anderen Seite berichtet hat; wer denn dies mit eigenen Augen angeschaut hat? Um was für Augen handelt es sich? Worauf blickten die Augen zuvor, und was sehen sie danach außer dem an der Bahnlinie zurückfliegenden Stacheldraht? Haben sie durch ihre Anschauung nur eine Vorstellung bestätigt bekommen oder waren sie zuvörderst neugierig zu erleben, was anders geworden ist in diesem Väterland?
Irgendwie fürchte ich, schon zu spät zu kommen. Es ist ein Gefühl, das mich eigentlich nie losgelassen hat. Ich könnte mir nur eine Erklärung denken: als Mann, der sich erinnert, muß ich mir vorwerfen, du hast in dieser Zeit gelebt, aber die Veränderungen sind ohne dich geschehen. Ich selbst konnte auch danach nur wenig dazu beitragen; vielleicht nur den Mut, es zu bejahen. Aber dieser Eindruck schwächt sich ab mit dem Nachwachsen der Generationen, vor allem unserer Kinder, die mit größerem Recht als wir behaupten können: ich bin da hineingeboren worden!
Aber wie soll man das alles verstehen: Die Namen von drüben werden doch hier in Büchern geführt; die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge müssen doch abgesprochen sein – doch nicht nur für mich allein? Warum dann diese Töne? Warum dann wieder verschweigen, wenn offenbar zuvor so viel darüber geredet worden ist, geredet worden sein muß ?Das waren doch schon die ersten »Verhandlungen«: warum dann nicht in allen Fragen und auf allen Gebieten?
Und daß mein Geld hüben wie drüben gilt; daß ich für Leistungen, die ich drüben erst in Anspruch nehme, hier schon bezahlen kann: auch das muß erst verarbeitet werden. Dann kann man doch von einem täglichen Austausch von Waren und Worten ausgehen?
Zunächst gings von Stuttgart bis Frankfurt am Main; dort, nach kurzem Aufenthalt, umsteigen in den »Interzonenzug« – das Wort mußte ebenfalls erst gelernt werden –, Endziel Berlin (Ost oder West?), mit Kurswagen nach Leipzig, Karl-Marx-Stadt (Karl-Marx-Stadt, nicht Chemnitz!) und Dresden. Je näher wir der Grenze kamen, desto leerer wurden die Abteile, stiegen auch die letzten aus.
Beamte traten, noch vor Bebra, an ihre Stelle. Herleshausen war die letzte Station auf westdeutschem Boden. Dann räumten auch sie das Feld. Nun immer an der Werra entlang (»wo Fulda und Werra sich küssen und es irgendwo büßen müssen«: von Karlheinz hatte ich den Vers; er fiel mir jetzt ein). Der Zug durchschnitt Weideland und Waldflecken: Zäune, Holzzäune und solche mit Stacheldraht erhöht, verschärft. Was sollte daran so besonders sein? So schützt sich der Bauer gegen den Einfall von Wild und gegen den Ausbruch seines Viehs; und der Hausbesitzer teilt so seinen Besitz und seine Gärten mit dem Nachbarn. Friedlich oder im Streit – vorwiegend friedlich und von altersher. Kühe – ja, Kühe und landwirtschaftliche Geräte und Bauten. Hier wurde gelebt. Doch auch wie von altersher? Wenigstens nach außen: die Wiesen waren nicht neu, und das Wasser war nicht erst gestern in die Erde eingelassen worden.
Wartha! Wartha über Hoyerswerda hieß warten! Hieß auch Fahnen und Plakate mit politischen Parolen rings um die kleine Station – und darüber! Noch während die Bremsen quietschten, meldete sich eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher: »Willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik! Alle Reisenden, die in die Deutsche Demokratische Republik einzureisen wünschen, aber keine Aufenthaltsgenehmigung mitführen, und auch solche Personen, die im Besitz von Telegrammen sind, werden gebeten, sich in die Baracke der Grenzüberwachung (Grenzüberwachung? Natürlich; auch das!) zu begeben. Ihr Gepäck wollen Sie bitte mitbringen.«
Es waren doch mehr mitgekommen, als ich geglaubt hatte. Die Lokomotive wurde mit Wasser nachgetankt; das bundesrepublikanische Zugpersonal gegen Angehörige der Deutschen Reichsbahn ausgetauscht. Und dann ging es doch weiter.
Umsteigen in Eisenach – Eisenach an 15.28 Uhr; Eisenach ab 15.47 Uhr. Fröttstädt an 16.11 Uhr; Fröttstädt ab 16.2 2 Uhr – Friedrichsroda an 16.57 Uhr. So wurde es mir schon daheim erklärt. Verspätungen? Auch sie hätte man mir von drüben aus entschuldigen können.
Ob ich auf dem Bahnhof oder davor nach meinen Ziel gefragt hatte? Jedenfalls stand ich bald nach meiner Ankunft vor einem älteren, größeren Gebäude in einem Park und las über dem breiten Portal: »Friedensheim«. Ich trat ein. Es roch nach Bohnerwachs. Die Holzwände glänzten. Alles sehr sauber. Eine ausladende Treppe führte geradeaus nach oben. Links blickte man in einen größeren Saal: es war der Speisesaal, in dem auch Tanz- und sonstige Veranstaltungen stattfanden. Rechter Hand wohl die Pförtnerloge, im Augenblick nicht besetzt. Ich würde mich irgendwie melden müssen. Oder warten! Nun entdeckte ich auch die Lautsprecher an den Wänden, von denen auf allen Stockwerken und in jedem Zimmer einer zu finden war. Das Mikrophon zu dieser Anlage, die ab dem Frühstück Musik sendete, unterbrochen nur von Nachrichten und Durchsagen, war in einer Ecke der Portierskabine aufgebaut. Ich brauchte nicht lange unsicher herumzustehen, da wurde ich auch schon freundlich, fast wie ein alter Bekannter oder Freund begrüßt und in die Verhältnisse eingewiesen.
Ankunft in ... oder Genosse Andermann
Bis zum Abend waren wir zu dritt auf dem Zimmer. Drei westdeutsche Bürger: Männer, Burschen im Alter von 24 bis 30 Jahren. Der Lange aus Braunschweig war zuerst da. Er lag im Bett, als ich hereinkam. Er habe Durchfall und fühle sich schwach auf den Beinen, erzählte er. Er sei schon heute morgen eingetroffen. Aber nicht aus Braunschweig. Er habe eine Studienreise durch die DDR hinter sich, und das hier war seine letzte Station. Doch es sei nicht das erste Mal, daß er hier in diesem Land sei.
Ich hatte sofort das Gefühl, daß er diese Einladungen persönlich brauchte. Damit hielt er sich wirtschaftlich über Wasser. Und er berichtete dann auch freimütig, daß er auf dem Bau gearbeitet habe. Von Beruf sei er Kaufmann, 30 Jahre alt und geschieden. Die Frau lebe mit einem oder zwei Kindern – ich habe nicht so genau hingehört – irgendwo in der Bundesrepublik. Aufgrund seiner politischen Einstellung sei die Ehe auseinandergegangen. Auch auf der Baustelle gab es Schwierigkeiten, so daß er immer öfters den Arbeitsplatz zu wechseln gezwungen gewesen sei. Zur Zeit sei er arbeitslos und bezöge Unterstützung, er sowie seine Familie. Ich zweifelte, schluckte meinen Zweifel aber hinunter. Dafür kannten wir uns noch zu wenig, hatten uns eben erst gefunden. Gerade an seiner »politischen Einstellung« zweifelte ich. Sie war mir zu durchsichtig. Gewiß fühlte ich mich wenig berufen zu einem Gesinnungsschnüffler. Aber wenn jemand diese Grenze in Deutschland überschritt, dann war er nicht auf der Flucht vor seiner Hausschaft. Sondern er hatte sie gerade in einen Bezug zu dem Ganzen gesetzt. Wir glaubten ihm nicht einmal den Arbeiter – er war so lang wie dürr, seine Arme wirkten hohl und kraftlos –, aber er vermochte uns auch keinen denkbaren Widerpart vorzuführen. Er war arbeitslos. An ihm konnten wir die Ernsthaftigkeit unserer eigenen Reise prüfen. Seine Lauheit und die Unverbindlichkeit, mit der er die Förderung über sich ergehen ließ, stachelte uns dazu an. Genosse Andermann – Siegfried-Heinrich, der Niedersachse – war bestimmt kein Löwe. Und schon gar kein Sieger.
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