Nikolai Roerich war übrigens der einzige Maler seiner Generation, der in Stassows Augen Gnade fand. Alle anderen hielt er für »dekadent«, zu »westlich« und »unrussisch«, und der begabteste von ihnen, Michail Wrubel, war ihm geradezu verhasst. 23Ein besonderer Dorn im Auge war Stassow die Welt der Kunst, eine Künstlervereinigung, die sich um eine gleichnamige Zeitschrift gruppierte und sich zum Ziel gesetzt hatte, der jungen Generation zum Durchbruch zu verhelfen.
Deren Anführer waren Roerichs Altersgenossen Sergej Diaghilew und Alexandre Benois. Der Erstere wird sich später zum wichtigsten Ausstellungsmacher und Theaterimpressario Russlands entwickeln und Alexandre Benois zum größten Kunstkritiker seiner Generation. Beide werden noch wichtige Rollen in Nikolai Roerichs Leben spielen.
Im Sommer 1898 schloss Nikolai Roerich sein Kunststudium erfolgreich ab und einen Monat später sein Studium der Rechte. Seine Abschlussarbeit trug den Titel »Die rechtliche Lage des Künstlers im alten Russland«. Auch wenn Nikolai Roerich später nie als Jurist arbeitete, so hatte doch das Studium in mehrfacher Hinsicht Einfluss auf sein weiteres Leben. Zum einen hatte er einen idealistischen Professor, der an einer Konvention zum Schutz von Kulturgütern in Kriegszeiten arbeitete – eine Idee, die der Künstler im Exil aufgreifen sollte – und zum anderen dürfte das Jurastudium nicht wenig zu seiner späteren, berüchtigten Prozessierfreude beigetragen haben.
Nach dem Studium blieb Nikolai Roerich nur wenige Monate ohne feste Arbeit. Schon im Herbst desselben Jahres verhalf ihm Stassow gleich zu zwei einflussreichen Posten. Er wurde Mitarbeiter der wichtigsten Quelle für Stipendien und Ausstellungsmöglichkeiten im damaligen Petersburg, der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der schönen Künste nämlich, zu der auch noch die zweite Kunstakademie der Hauptstadt sowie ein Museum gehörten. Dazu wurde er Redakteur der von Stassow gegründeten Zeitschrift Kunst und Kunsthandwerk, mit der dieser gegen die »westlichen Tendenzen« der Jungen und vor allem der Welt der Kunst in den Krieg zog.
Die Reaktion der »Westler« ließ nicht lange auf sich warten. Diaghilew verspottete den »Lieblingsenkel« Stassows in der Welt der Kunst als Speichellecker, als »Kalb, das nicht nur an zwei Muttertieren« saugt, wie es in einem russischen Sprichwort heißt, sondern sogar an deren dreien: An den Zitzen von Stassow nämlich, an denen der Kaiserlichen Gesellschaft und an denen eines gewissen Storonnyi, eines einflussreichen Kulturbürokraten. 24
Nikolai Roerich befand sich in einer schwierigen Lage. Auf der einen Seite war er weiter auf die Gunst Stassows angewiesen, aber bei Diaghilew und Benois lag zweifellos die Zukunft. Bemerkenswert, wie er sich schließlich herauswand. Trotz des Drängens des Großkritikers verzichtete er auf allzu heftige Angriffe gegen die Welt der Kunst und beließ es bei einer allgemeinen Kritik an der angeblich zu »unrussischen«, zu »europäischen« Haltung dieser Zeitschrift. Um das Ganze noch mehr abzuschwächen, veröffentlichte er nicht unter eigenem Namen, sondern unter einem Pseudonym.
Tatsächlich gelang es ihm, Stassows Gunst nicht zu verlieren, und auch mit der Welt der Kunst sollte er sich wieder versöhnen. 1908, die längst anerkannte Welt der Kunst hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst, sollte er sogar Vorsitzender einer Neugründung werden. Allerdings ohne den zweiten Kopf der Welt der Kunst, den scharfzüngigen Alexandre Benois, mit dem ihn ab 1898 ein Freund-Feind-Verhältnis verband. Roerich, der sich gern als »Urrusse« stilisiert, greift Benois, den Enkel französischer Einwanderer, nicht nur einmal als »Ausländer« an, der angeblich kein »Gefühl für echt russische Kunst« hatte. Aber er wird sich auch mehrmals mit schmeichelhaften Briefen an ihn wenden, immer in der Hoffnung, den einflussreichen Kritiker auf seine Seite zu ziehen. Benois wird weder die Feindschaft noch die Annäherungsversuche voll erwidern, sondern zu Roerich immer ein distanziert-ironisches Verhältnis bewahren.
Helena
»Alle, die sie erblickten, waren von ihrem Äußeren bezaubert. Sie war von hoher Gestalt, schlank, wohlproportioniert, voller Eleganz, Weiblichkeit, Grazie und besaß eine Ausstrahlung, die unwillkürlich alle Blicke auf sich zog. Sie war immer nach der letzten Mode gekleidet, trug Ohrringe, Halsketten und teuren Schmuck. Sie hatte eine sehr melodische, zärtliche Stimme und liebte es, ihr nahestehende Menschen mit Koseworten anzusprechen.« 25
Diese Zeilen stammen von einer engen Freundin, die sie 1956 in einem Invalidenheim im kasachischen Karaganda niederschrieb, vermutlich ihre letzte Station in einer langen Kette von Straflagern und Verbannung. Doch diese Beschreibung der in der Erinnerung ewig jungen Helena trifft genau den Eindruck, den auch später noch Helena auf alle Betrachter machen sollte. Helena Schaposchnikowa war eine blendende Schönheit, »toujours belle«, wie 1918 Alexandre Benois in sein Tagebuch notierte, und dazu noch intelligent, hoch gebildet und eine starke Persönlichkeit. Ein weiterer Beobachter, der amerikanische Börsenmakler Louis Horch, beschreibt sie später als »eine der klügsten Frauen, die je an diese Ufer gekommen sind«. 26
Zum ersten Mal begegnete Nikolai Roerich seiner späteren Frau im Sommer 1899. Das war im Waldai, einer hügeligen Landschaft zwischen Moskau und St. Petersburg, im Schloss ihres Onkels, des Fürsten Putanin, in dem in den 1860er Jahren der Zar und seine Familie öfter selbst zu Gast gewesen waren. Doch Putanin entstammte nicht nur einer der namhaftesten Familien des Landes, sondern war auch der bedeutendste »Gentleman-Ausgräber« Russlands. In dem gewaltigen, von Efeu umrankten Bau befanden sich eine archäologische Fachbibliothek wie auch eine Dauerausstellung der Funde des Fürsten. Das war der Grund, warum Nikolai Roerich, der sich gerade in der Gegend aufhielt, eines Abends vorbeikam, um sich dem berühmten Mann vorzustellen. Wenn man den Erinnerungen der späteren Helena Roerich glauben darf, so hielt man den Mann mit den staubigen Stiefeln erst für einen Pächter oder einen Kurier, gewann aber bald einen günstigeren Eindruck von ihm und ließ ihn schließlich im Arbeitszimmer des Fürsten, der verreist war, sein Nachtlager aufschlagen. Drei Tage blieb der »angenehme junge Mann« zu Gast und »nahm alle für sich ein«. 27
Es war eine Begegnung, die Nikolai Roerichs Leben von Grund auf veränderte. Die nächsten zwei Jahre bis zur schließlichen Heirat beherrschte ihn nur ein Thema: Helena und immer wieder Helena. Und auch nach der Heirat sollte er seine Frau »vergöttern« – in genau dem metaphysischen Sinne, der in dem Verb mitschwingt.
Doch vorerst musste er nicht nur sie, sondern auch ihre Familie für sich gewinnen.
Helena stammte mütterlicherseits von den Golenischtsch-Kutusows ab, einer Familie, deren Name noch heute in einer der bekanntesten Straßen Moskaus nachklingt. Ihr Urgroßonkel war Michail Kutusow, der Befehlshaber in den Kriegen gegen Napoleon und der größte russische Kriegsheld des 19. Jahrhunderts. Helena Schaposchnikowa war sich ihrer Abstammung immer voll bewusst und erfreute ihre Jüngerinnen im amerikanischen Exil mit farbigen Geschichten über die willensstarken Frauen der Golenschischtsch-Kutusow. Über ihre Urgroßmutter erzählte sie, jene sei »eine machtbewusste Frau,« gewesen, »die der Zarin Katharina II. einen Drohbrief schrieb, als diese einen Wachtmeister der Landpolizei zu dem Gut schickte, um darauf zu achten, dass die Gutsbesitzer ihre Leibeigenen nicht zu sehr unterdrückten«. 28
Die alte Dame habe ein so strenges Regiment geführt, dass sich selbst ihre Söhne nicht setzen durften, wenn sie im Zimmer war, und ihre Gäste habe sie je nach Rang empfangen. »Einige in der ersten Halle, andere im Salon und wieder andere in ihrem persönlichen Zimmer.« 29
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