Nikolai Roerich wuchs auf der Wassiliinsel auf, direkt im Zentrum der Hauptstadt des Zarenreiches. Wohnung wie Büro des Vaters waren in einem fünfstöckigen, klassizistischen Neubau am Newaufer, einen Steinwurf vom imposanten Bau der kaiserlichen Kunstakademie. Von hier konnte man den Winterpalast sehen, der nicht mehr als zwanzig Minuten zu Fuß entfernt lag, sowie die Paläste des Hochadels auf der anderen Newaseite. Das damalige Petersburg war eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt. Bauern aus der Provinz zog es in die großen Industriebetriebe, der Kleinadel versuchte in der Verwaltung des expandierenden Reiches einen Posten zu ergattern, und es gab eine starke deutsche Minderheit. Ganz oben standen die baltischen Barone, von denen es hieß, niemand habe sie in ihrer Verehrung für den Zaren wie auch ihrer Verachtung für das russische Volk übertroffen. Darunter gab es eine breite Mittelschicht aus Kleinindustriellen und Handwerkern aller Art. Vertreter der Unterschicht dagegen waren unter den Deutschen kaum anzutreffen. Wie man der russischen Literatur entnehmen kann, war diese Minderheit nicht beliebt. Bei Gogol lesen wir von den teuren deutschen Schneidern, die mit ihrer Akkuratesse ihren ewig betrunkenen russischen Standeskollegen die besten Aufträge wegnehmen, von faden deutschen Kartoffelgerichten, die die sparsamen Einwanderer zubereiten, und es ist kein Zufall, dass die geizige, unangenehm pedantische Zimmerwirtin Raskolnikows, der Hauptfigur von Dostojewskis Schuld und Sühne, eine Deutsche ist. Das »deutsche« St. Petersburg sollte mit dem Ersten Weltkrieg untergehen. Nicht nur wurde die Stadt 1914 in Petrograd umbenannt, auch all die deutschen Ladenschilder, die einem auf alten Fotos ins Auge fallen, wurden sämtlich russifiziert.
Eben das deutsche Petersburg ist in dem, was über Nikolai Roerichs Jugend zweifelsfrei dokumentarisch belegt ist, allgegenwärtig. In dem Haus am Universitätsufer ist im Erdgeschoss die große »Fleischwaarenhandlung [sic!] Gries« untergebracht, und in einem zweistöckigen Haus mit zwanzig Zimmern, das die Roerichs auf der Wassiliinsel bauen, sind als Mieter der Architekt Schperer, der preußische Untertan Zillessen und der Angestellte Njustrem samt Familien verzeichnet. 7Nikolai Roerich selbst besucht ab dem 7. Lebensjahr eine Privatschule mit deutscher Unterrichtssprache. Und genau dies wird er sein Leben lang heftig abwehren, wird sich als alles Mögliche stilisieren – als Nachfahre Ruriks, als »Retter Rußlands« und sogar als Wiedergeburt des Fünften, des »großen« Dalai Lama –, nur von seinen deutschen Wurzeln wird er nie ein Wort verlauten lassen. Damit sollte er auf lange Sicht Erfolg haben. Wird er in einer frühen autobiografischen Kurzgeschichte, zum gewaltigen Ärger des Ich-Erzählers, von einem völlig Fremden sofort für einen Deutschen gehalten, 8so werden spätere Beschreibungen des Künstlers erst das »Skandinavische« an ihm betonen und später das »Asiatische«. 9
Übrigens sind Briefe auf Deutsch von ihm kaum überliefert, so wenig wie sonstige Spuren der Tatsache, dass er Deutsch perfekt beherrschte. Als er nach der Revolution das Angebot bekam, nach Berlin zu gehen, zog er es vor, nach London emigrieren.
Warum wehrte Nikolai Roerich zeitlebens alles ab, was auf eine deutsche Herkunft des Vaters und damit auch von ihm selbst deutete? Zum einen war es in den letzten Jahrzehnten vor der Revolution keine Empfehlung, ausländischer und gar deutscher Herkunft zu sein. Die späte Zarenzeit war von einem immer schärfer werdenden russischen Nationalismus geprägt. In der Ukraine, in Polen und den baltischen Provinzen des Reiches wurden die örtlichen Sprachen unterdrückt und als Verwaltungssprache nur noch Russisch zugelassen. Der russische Chauvinismus, der mit dem Antisemitismus eine unappetitliche Mischung einging, wurde von den herrschenden Kreisen des Zarenreiches als letztes Mittel gesehen, das Land noch vor der drohenden Revolution zu bewahren.
Zum anderen kann man darin eine Abwehr all dessen sehen, wofür Nikolai Roerichs Vater stand. In dem wenigen, was sein Sohn über ihn berichten wird, tritt uns Konstantin Roerich als Mann entgegen, der nur Arbeit und nichts als Arbeit kannte. Der uneheliche Sohn eines Dienstmädchens aus dem Baltikum war ein erfolgreicher Notar, bis hin zu Kunden aus Hofkreisen, der aber niemanden an sich heranließ. Nikolai Roerich wird 1937, als er selbst schon über sechzig Jahre alt ist, Folgendes in sein Tagebuch schreiben: »Was wussten wir über den Vater? Es war wenig. [...] Wir hörten von seinen geschäftlichen Angelegenheiten, aber sein Inneres blieb uns verborgen. [...] Vieles wurde nicht ausgesprochen. Wahrscheinlich hatte es Enttäuschungen gegeben. Freunde starben früh, aber neue kamen nicht hinzu. Die besten Träume erfüllten sich nicht. Wenige und vielleicht niemand wusste, woran sein Herz litt.« 10
Am deutlichsten wird das Bild Konstantin Roerichs wenige Monate vor seinem Tod. Hier finden wir die einzigen authentischen, nicht im Nachhinein verfassten Aufzeichnungen über den Vater. Es ist das Jahr 1900, und Nikolai Roerich steht am Anfang seiner Karriere als Maler. Fast jeden Tag schreibt er an seine spätere Frau Helena (»Lada«) und teilt ihr seine Gedanken, Überlegungen, Hoffnungen und Probleme mit. Das größte Problem in seiner Umgebung ist der nunmehr 63 Jahre alte Vater, der immer mehr in geistige Umnachtung versinkt und zeitweise seine Frau und die Kinder wüst beschimpft. Verstörend ist die Isolation des ehemaligen Notars. Weder Verwandte noch Freunde des Vaters werden in den Briefen erwähnt. Nur ein namenlos bleibender Onkel scheint Konstantin Roerich nahe genug gewesen zu sein, um Hilfe leisten zu können. Die Ankunft jenes Onkels wird sehnlichst erwartet. Am 27. Mai lesen wir, der Onkel käme erst am 19. Juni, und »das Schwein kümmert es wenig, wie schlecht es uns geht«. 11Woher dieser Onkel kommen wird, er lebt offensichtlich nicht in Petersburg, geht aus den Briefen nicht hervor.
Am 19. Juni kommt er tatsächlich an, und Nikolai erfährt beglückt, dass auch er der Meinung ist, der Vater müsse sich einweisen lassen. Doch am 21. Juni schreibt er an Helena: »Bei uns ist es schrecklich! Mit der Einweisung des Vaters klappt es nicht. Wir werden ihn zeitweise hier behalten zusammen mit zwei Aufsehern und einem Arzt. Mama ist dagegen. Es gibt einen Skandal. Der Onkel hätte fast alles hingeworfen und wäre abgereist.«
Wer ist dieser Onkel, der neben dem mysteriösen Fjodor einzig wirklich greifbare Verwandte Konstantin Roerichs?
Aus den Briefen erfährt man, dass er über viel Geld verfügt und seichte Operetten liebt, in die er den gelangweilten Nikolai mitnimmt. Der Onkel hat längere Zeit in Paris verbracht, und er berichtet seinem Neffen von Abenteuern aus den dortigen Vergnügungstempeln, dass dieser vor Scham nicht weiß wohin. Das alles hört sich nicht nach einem der weiteren Kinder Friedrich Roerichs, den Halbgeschwistern oder Geschwistern Konstantins an, die kaum das Geld für derartige Vergnügungen hatten. Eher schon nach jemandem aus höheren Kreisen. Den schwerreichen von der Ropps zum Beispiel, die in Kurland und Litauen über dreißig Güter besaßen.
Schließlich muss der Onkel nicht abreisen, Konstantin Roerich führt sich bei einer ärztlichen Visite derart auf, dass die Einweisung gelingt. Nikolai schreibt an »Lada« (Helena): »Wie Du weißt, stehe ich mit dem Vater nicht so gut, aber trotzdem ist es schrecklich.« 12
Wenig später reist die Mutter Nikolais mit den zwei jüngeren Brüdern in den Kaukasus und lässt Nikolai und den Onkel zurück. Die beiden besuchen den Vater mehrmals im Krankenhaus, wo er Ende Juli stirbt. Zur Beerdigung kommen fast mehr Freunde Nikolais als des Vaters, wie er an »Lada« schreibt. »Offensichtlich ist er ihnen jetzt nicht mehr nütze«, wie sein Sohn kommentiert. 13Und auch seine Ehefrau, die in letzter Minute, gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung, aus dem Kaukasus zurückgekommen ist, scheint keine allzu große Trauer zu empfinden, sondern froh zu sein, als alles vorbei ist. Sie liebt keine lutherischen Gottesdienste, wie ihr Sohn berichtet.
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