Die letzte Frage ist nicht schwer zu beantworten. 1862 nämlich hatte Konstantin Roerich die aus eben diesem Stand herkommende Maria Kalaschnikowa, die Mutter Nikolais, geheiratet.
Maria Kalaschnikowa brachte nicht viel in die Ehe mit. Man weiß, sie war Teilerbin eines Hauses in der Provinzstadt Ostrow, aber in Erbstreitigkeiten verwickelt. 21867 musste Konstantin Roerich, der zu dieser Zeit 1500 Rubel jährlich verdiente, seine Vorgesetzten bitten, ihm ein Darlehen von 400 Rubeln zu gewähren, um eine Versteigerung des Besitzes seiner Frau zu verhindern. Aber nur wenige Monate später kam die nächste verblüffende Wende in seinem Schicksal. Aus unbekannter Quelle erhielt der nunmehr Dreißigjährige die gewaltige Summe von 10000 Rubeln, hinterlegte sie als Kaution und bekam trotz nicht abgeschlossenen Studiums eine Stelle als Notar beim St. Petersburger Kreisgericht. Aus dem Teilerbe seiner Frau kann die Summe übrigens nicht gekommen sein, denn das Haus in Ostrow war noch Jahre später im Besitz der Familie.
Damit begann sein Aufstieg, der ihm Kunden aus den besten Kreisen und ein hohes Ansehen einbringen sollte. 1872 kaufte er sogar ein gewaltiges Landgut nordöstlich von St. Petersburg und besaß damit fast alle Attribute eines Angehörigen der herrschenden Schicht des Kaiserreiches. Fast alle, denn ihm fehlte der Adel und ihn sollte er nie erlangen.
Umso wütender wird sein Sohn Nikolai eben dies später behaupten. Vor der Heirat mit seiner aus dem Hochadel stammenden Frau wird er ihren widerstrebenden Verwandten versichern, er sei adeliger Abstammung, nur könne er dies nicht beweisen, da die entsprechenden Urkunden leider bei einem Brand im Haus seines Urgroßvaters vernichtet worden seien. Als einzigen Beweis seiner angeblichen Herkunft wird er ein Wappen der Familie »Roerich« vorzeigen, das er aller Wahrscheinlichkeit selbst entworfen hat. 1930 schließlich wird es ihm gelingen, sich sozusagen selbst zu adeln, als er sich anlässlich der Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft den adeligen Namenszusatz »de« zulegt. Von nun an wird er im Briefverkehr auf der Anrede »de Roerich« bestehen, und aus der Tagebucheintragung einer seiner Anhängerinnen können wir entnehmen, dies sei nur recht und billig, denn bereits in Russland habe seine Familie den Titel Freiherr getragen. 3
Die Familie Roerich? Oder meinte er damit die Freiherren von der Ropp? Und das bringt uns zu der Frage, was Nikolai Roerich von der Herkunft seines Vaters überhaupt gewusst hat und ob man in den Abertausend Briefen und Aufzeichnungen des Vielschreibers vielleicht irgendeinen Hinweis findet. Um es gleich zu sagen, weder der Name Schuhschel noch der Name von der Ropp taucht auf. Zumindest nicht in irgendeiner der zahlreichen Ausgaben seiner Briefe und Selbstzeugnisse. Auch nicht ein Hinweis auf jemanden mit der Biografie Eduard von der Ropps. Viel ist über ihn nicht bekannt, aber in der Datenbank des Osteuropa-Instituts findet man immerhin die Angabe, dass er 1810 in Paplacken geboren wurde, es in der Verwaltung der Verkehrswege bis zum wirklichen Staatsrat, der vierten Stufe der Rangliste, geschafft hatte und kurz vor Jahresende 1869 in St. Petersburg gestorben war. Er hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nie geheiratet, und es sind auch keine Kinder von ihm verzeichnet. 4Sein Tod könnte erklären, woher plötzlich Konstantin Roerich die gewaltige Summe hatte, die nötig war, um 1872 Iswara, jenes Landgut nordwestlich von St. Petersburg, zu kaufen.
Wenn wir die spärlichen Auskünfte Nikolai Roerichs über seine Familie väterlicherseits durchgehen, so fallen vor allem die Leerstellen auf. Weder werden Geschwister des Vaters erwähnt, noch findet sich der leiseste Hinweise auf die Tatsache, dass sein Vater Konstantin deutscher Herkunft war, wie auch dessen Muttersprache Deutsch gewesen sein muss. Hat schon Konstantin Roerich alles getan, um seine Vergangenheit in Kurland hinter sich zu lassen, war er es bereits, der sich eine »neue« Identität verschafft hat? Oder ist es erst sein Sohn Nikolai gewesen, der spätere »Urrusse«, der die Herkunft seines Vaters verdeckte?
Das wenige, was Nikolai Roerich später über die unmittelbare Familie seines Vaters berichtet hat, ist widersprüchlich. So brachte er 1912 diese Beschreibung seines Großvaters zu Papier: »Die fröhliche Kinderschar rennt die Treppe hinunter. [...] Wir dürfen in das dunkle, hohe Zimmer des Großvaters.
Alles beim Großvater ist besonders. Uns gefällt der Sessel mit den Drachen. Ach hätten wir solche im Kinderzimmer! Wunderbar ist auch die Wanduhr, die Musik spielt. In den Schränken hinter den Glastüren Bücher mit goldbedruckten Einbänden. Es hängen schwarze Bilder und eines davon ist schief, aber der Großvater liebt es nicht, wenn man etwas anfasst. Es gibt viele schöne Dinge beim Großvater. [...] Man darf die Freimaurerzeichen anfassen, aber nicht anziehen. Und wenn der Großvater guter Laune ist und ihm die Füße nicht wehtun, dann öffnet er die rechte Schublade des Tisches. Und dort sind unendlich viele interessante Dinge! [...] Nach Beendigung der Hausaufgaben lieben wir es, zum Großvater zu rennen. Wir freuen uns am Großvater.
Etwas anderes.
›Großvater verbietet es, ihn zu besuchen.‹ Der erzürnte Großvater. Groß, grau, stachelig. Unmöglich zu ahnen, was erlaubt ist. Er weiß so oder so alles besser. Am besten das, was schon zu seiner Zeit so war. Alles muss so sein und nicht anders. Schimpft und fordert zur gleichen Zeit.« 5
Großväterchen Fjodor kommt in Tagebucheinträgen und Briefen Nikolai Roerichs noch einige weitere Male vor. Wir erfahren noch, er habe in seiner Jugend bei den Husaren gedient, habe geraucht wie ein Schlot und sei 105 Jahre alt geworden. Nur war dieser Fjodor identisch mit Friedrich Roerich? Oder war es jemand völlig anderes? Mit der Bezeichnung Großvater oder Großväterchen geht man im Russischen großzügig um.
Gründe zum Zweifeln gibt es. Friedrich Roerich, der Sohn eines Schneiders als Husar? Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, dass die Husaren entweder aus den Minderheiten im Süden des Reiches oder aus dem Hochadel und dann für die Leibregimenter der Zarenfamilie rekrutiert wurden. Genauso steht es mit der Behauptung, der Großvater sei uralt geworden. Das musste er ja auch, wenn sich der 1806 geborene Friedrich Ende des 19. Jahrhunderts bei seinem Sohn in Petersburg aufgehalten haben soll. Nur gibt es einen Brief Nikolai Roerichs an seinen litauischen Anhänger Richard Rudsites, in dem er mitteilt, das ungewöhnliche Alter Fjodors läge in der Familie, denn auch der Vater Friedrichs, Nikolais Urgroßvater also, sei mehr als neunzig Jahre alt geworden. 6Das aber trifft nicht zu, denn der Schneider Johann Roerich ist gerade einmal 57 Jahre alt geworden, wie Ivars Silars herausgefunden hat.
Auch die angebliche Mitgliedschaft Friedrichs bei den Freimaurern erweckt Zweifel. Zumindest wenn Fjodor und Friedrich identisch waren. Denn die Freimaurerei war im damaligen russischen Reich streng verboten und nur Hochgestellte wagten es, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Der Aufsteiger Friedrich Roerich soll dieses Risiko eingegangen sein?
War das so detailliert beschriebene Großväterchen ein von der Ropp oder vielleicht jemand völlig anderes?
Nikolai Roerich hat die Spuren seiner Herkunft verwischt, das ist sicher. Wenn sein wahrer Großvater Eduard von der Ropp war, wie es Ivars Silars annimmt, dann hätte sein Vater den Makel der unehelichen Geburt getragen. War aber sein Großvater Friedrich Roerich, dann durfte keinesfalls dessen niedrige Herkunft ans Licht kommen. Weder das eine noch das andere wird vermutlich jemals zweifelsfrei zu belegen sein. Nikolai Roerich war ein Mann, der seine Geheimnisse zu wahren wusste.
Anfänge
Konstantin Roerich und seine Frau Maria bekamen bald nach ihrer Hochzeit eine Tochter, Lidia, die später einen Arzt heiratete und sonst wenig Spuren hinterlassen hat. Dann, am 27. September 1874, wurde ihr Sohn Nikolai geboren und im Abstand von acht und elf Jahren noch zwei weitere Söhne, Wladimir und Boris. Der eine wurde Militär und der andere Architekt, aber beide sollten unter den Einfluss ihres älteren Bruders geraten und noch die eine oder andere Rolle in seinen Abenteuern spielen.
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