„Sag das nicht, Luise, denn morgen wird Doktor Tholozan mein Gemahl werden, und ich muss versuchen, meinem — meinem Vertrag die beste Seite abzugewinnen,“ fügte sie mit einem leisen Seufzer hinzu. „Aber höre erst das Uebrige und dann beurteile mich, wie du willst, aber nicht zu streng, liebe Freundin. Zehn Jahre bin ich in diesem Hause gewesen, zehn lange Jahre, ohne Unterbrechung, und zehn lange Jahre habe ich mich nach einem eignen Heim gesehnt. Du und die andern, liebe Freundin, ihr seid in eure glückliche Heimat, zu euren Vätern, euren Müttern und lieben Verwandten gegangen — ich, Luise, ich habe keinen Freund auf der ganzen weiten Welt, als Doktor Tholozan. Während der letzten drei Jahre ist mir dieser Ort wie ein Gefängnis erschienen, und das einzige Mittel, ihm zu entrinnen, ist, dass ich Doktor Tholozans Frau werde. Deshalb werde ich ihm morgen zum Altar folgen, und es soll wahrlich nicht mein Fehler sein, wenn er mich nicht nach kurzer Zeit liebt. Er ist ein weltberühmter Mann, und eines solchen Mannes Gattin zu sein, ist eine Ehre. Das habe ich ihm gesagt, als er zurückkam. Er lachte nur leise, klingelte und liess Madame Pouilly um eine Unterredung bitten. Als sie ins Zimmer trat, machte er eine tiefe Verbeugung. ‚Madame,‘ sagte er, ‚es wird Sie kaum überraschen, wenn Sie hören, dass meine Mündel und ich im Begriff sind, durch ein noch engeres Band vereinigt zu werden. Ich habe die Ehre, Ihnen die junge Dame vorzustellen, die alsbald meine Gattin werden wird. Gestatten Sie mir, diesen freudigen Anlass zu benutzen, Ihnen meinen Dank für die mütterliche Sorge auszusprechen, die Sie ihr so viele Jahre lang in so reichem Masse haben zu teil werden lassen. Wir hoffen, Sie werden uns die Freude machen, dies geringe äussere Zeichen unsrer Dankbarkeit anzunehmen.‘ Dabei überreichte er ihr ein Leder-Etui. ‚Wir müssen noch zwei andre Vergünstigungen von Ihnen erbitten, liebe Madame, nämlich, dass Sie die Freundlichkeit haben, bei der bevorstehenden Trauung uns die Ehre Ihrer Gegenwart zu schenken, und dass Sie gestatten, dass die Hochzeit von diesem Hause aus stattfindet. Die erforderlichen Schritte und Anmeldungen bei den kirchlichen und bürgerlichen Behörden habe ich gethan und besorgt. Da Mademoiselle Montuy keine lebenden weiblichen Verwandten hat, so würden Sie uns weiter zu grossem Danke verpflichten, wenn Sie die Mühe übernehmen wollten, ihr eine passende Ausstattung zu beschaffen.‘ Dabei händigte er ihr eine Anweisung auf fünftausend Franken ein. Mein zukünftiger Gemahl ist jedenfalls freigebig. Madame brach in eine Flut von Glückwünschen aus, und der Doktor liess sie ausreden. Er fühlte offenbar, dass sie nur mit frischer Kraft beginnen würde, wenn er sie unterbräche. Als Madame ihre Redensarten erschöpft hatte, sah er nach der Uhr. ‚Ich fürchte, ich habe Ihre kostbare Zeit schon allzu lange in Anspruch genommen,‘ sagte er, und dann küsste er wieder meine Fingerspitzen und empfahl sich, ohne die von Madame wiederholt angebotenen Erfrischungen anzunehmen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen, Luise; das war vor drei Tagen, und morgen werden wir Mann und Frau.“
„Aber er liebt dich, Helene, er liebt dich ganz gewiss. Diese funkelnden Ohrringe und der wundervolle Ring beweisen das ganz klar.“
„Ja, in gewisser Art, Kind, vielleicht in einer gewissen Art,“ entgegnete das ältere Mädchen nachdenklich. „Allein wir dürfen nicht vergessen, dass im Altertum die Opfertiere mit Blumen geschmückt wurden; das ist meine Ausschmückung, Luise, und das Opfer findet morgen statt. — Doch nein, ich thue ihm unrecht,“ sagte das Mädchen und richtete sich stolz empor. „Es ist kein Opfer, es ist nur ein Vertrag, und ich will versuchen, meinen Teil des Uebereinkommens getreulich zu erfüllen.“ Als sie diese Worte sprach, zitterten ihre Lippen wieder. „Gott verzeih’ mir!“ rief sie, „Gott vergib mir!“ Und dann warf sie sich ihrer Freundin an die Brust und brach in einen Strom von Thränen aus.
Doktor Tholozans Flitterwochen waren mehr als zur Hälfte vorüber. Den ersten Teil hatte er in Folkestone verlebt, und jetzt wollte das neuvermählte Paar die Freuden des Landlebens und die Süssigkeiten des dolce far niente geniessen.
Für den Augenblick gaben sich Doktor Tholozan und seine Frau mit vollen Zügen diesem Genuss hin. Dem äussern Anschein nach waren sie von nagenden Sorgen jeder Art frei. Die junge Frau hatte keine Veranlassung, tägliche, schreckliche Verhandlungen mit der Köchin zu fürchten, denn die aufmerksame Fürsorge der Frau Pouilly hatte für die Villa „die beiden Grenadiere“ eine Künstlerin von unübertrefflicher Vorzüglichkeit in Dienst genommen, eine Frau von feiner Empfindung und fruchtbarer Einbildungskraft, welche die dreihundert Speisezettel des Baron Brisse an den Fingern herzählen konnte, eine gewissenhafte Frau, die sich eher in ihrem eignen Backofen zu Tode geröstet, als eine schlechte Mahlzeit auf den Tisch geschickt haben würde. Weder der Doktor noch seine Frau hatten England früher schon besucht gehabt, und die Ereignisse des täglichen Lebens in dem englischen Badeort war ihnen gewissermassen eine Offenbarung gewesen. Jetzt aber waren sie wieder in Frankreich und hatten sich auf vierzehn Tage in der reizenden kleinen Villa bei Banquerouteville, welche Einheimischen und Fremden unter dem Namen „die beiden Grenadiere“ bekannt ist, niedergelassen. Die Villa war das schönste, was ein neuvermähltes Paar sich zu vorübergehendem Aufenthalt wünschen konnte. Sie stand in einem kleinen Garten, einem Eden en miniature, in welchem nicht nur ein, sondern viele Apfelbäume wuchsen. Da gab es Lauben, ländliche Hütten und Sommerhäuschen, eine Grotte und einen Springbrunnen und Blumen in Hülle und Fülle, und das Klima von Banquerouteville ist, wie männiglich bekannt, ebenso balsamisch, wie gesund. Auch Obst war im Ueberfluss vorhanden, aber die Erdbeerzeit war vorüber, und die einzigen gegenwärtig reifen und essbaren Früchte in dem grossen, schattigen Garten waren Johannisbeeren, denen es etwas an Poesie fehlt, und die noch prosaischeren Stachelbeeren.
Doktor Tholozan und seine Frau waren in dem Garten umhergewandelt; sie hatten Stachelbeeren gegessen und alle Sehenswürdigkeiten von Banquerouteville-sur-Mer bewundert, und zweimal jeden Tag hatten sie eine Spazierfahrt auf staubigen Landstrassen und hübschen, heckenumsäumten Wegen gemacht. Aber, die Wahrheit zu gestehen, das Paar fühlte sich ein ganz, ganz klein wenig gelangweilt — ohne jedoch diese Thatsache, auch sich selbst gegenüber, auch nur einen Augenblick einzuräumen. Der Doktor rauchte etwas mehr, als gut für ihn war, und hatte etwas Heimweh nach seinen Patienten, seinem Klub und seinen ruhigen Abenden im grossen Atelier. Für einen Mann von sechzig Jahren hat es seine Schwierigkeiten, Gegenstände für die Unterhaltung mit einer neunzehnjährigen Frau zu ersinnen, und was kann wohl ein Mädchen von neunzehn einem Mann von sechzig zu erzählen haben? Einem jüngern Mann würde die goldige Zukunft Gesprächsstoff genug geliefert haben; mit sechzig Jahren ist jedoch die Zukunft für die meisten ein etwas peinlicher Gegenstand, und je weniger über die Vergangenheit gesagt wird, um so besser ist es.
Das Ehepaar sass in einer Laube auf bequemen Sesseln, durch dichtes Weinlaub vor den feurigen Strahlen der Nachmittagssonne geschützt. Sie starrten in die Massen des sonnendurchglühten Blätterwerks, wahrscheinlich aus demselben Grunde, aus welchem die Sterne auf uns herabblicken, nämlich, weil sie nichts besseres zu thun haben. Endlich brach der Doktor das Schweigen.
„Helene,“ sagte er, „ich fürchte, du musst deine jungen Gefährtinnen und das Leben in Madame Pouillys Hause vermissen.“
„O nein,“ erwiderte das Mädchen mit einem sonnigen Lächeln, „mir ist alles neu, die ganze Welt liegt vor mir, und ich bin nicht mehr ohne Freund, Felix,“ fügte sie mit einem allerliebsten Erröten hinzu, während sie ihre zarten Finger mit den reizenden Grübchen an den Knöcheln auf die weisse, kalte Hand des Doktors legte.
Читать дальше