Christian betrachtete den Bogenschützen voller Anteilnahme. Dennoch sagte er nichts. Der Ritter wusste, dass Robin nichts von Mitleid oder Mitgefühl hören wollte.
Der Mann holte tief Luft. »Auf jeden Fall konnte ich fliehen. Auf meiner Flucht tötete ich einige Blutsklaven und einen Vampir, der sie anführte. Ein paar Bauern beobachteten den Kampf und die Geschichte darüber verbreitete sich wie ein Flächenbrand.«
Christian stöhnte leise. »Lass mich raten: Mit jedem Mal wurde die Geschichte aufgebauscht. Die Legende um deine Person wurde größer und größer.«
Robin hob hilflos die Arme. »Genauso ist es. Die Leute schrieben mir jeden noch so kleinen Sieg, jeden noch so kleinen Akt des Widerstands zu. Viele der Gefechte, von denen berichtet wurde, hat es gar nicht gegeben. Und bei den meisten, die es tatsächlich gab, war ich meilenweit entfernt. Schließlich kam irgendein Barde auf die glänzende Idee, mich Robin Hood zu nennen. Keine Ahnung, was den geritten hat. Aber auf einmal war ich so was wie ein leuchtender Stern im Kampf gegen die Vampire.«
Christian deutete ringsum. »Und es kamen Menschen, um sich dir anzuschließen.«
»Ich wollte sie zunächst wegschicken, aber sie wollten einfach nicht gehen. Irgendwann habe ich mich dann in mein Schicksal gefügt.«
Christian verkniff sich nur mit Mühe ein Lachen.
»Das ist nicht witzig«, schalt Robin ihn sanft.
»Doch, irgendwie schon«, gab Christian feixend zurück. »Die meisten Menschen träumen ihr halbes Leben lang davon, ein Held zu sein. Dir fällt es in den Schoß und du willst es am liebsten wieder loswerden.«
»Natürlich will ich das, aber es funktioniert einfach nicht. Am Ende wusste ich mir nicht mehr zu helfen und habe nach dir geschickt.«
»Und du hast recht daran getan«, erwiderte Christian. »Wenn die Vampire dabei sind, sich auf der Insel eine Machtbasis zu erschaffen, dann muss das unter allen Umständen verhindert werden.« Er stellte sich vor, wie es für Europa aussehen würde, wenn sich England zu einem einzigen großen Vampirnest entwickeln würde – und schauderte. »Das muss verhindert werden«, wiederholte er leise.
»Es ist sogar noch schlimmer. John und seine Schergen haben ihre Feldzüge bis in den Norden hinein ausgeweitet. Bis nach Schottland.«
»Aber Schottland ist keine Bedrohung. Die dortigen Clans sind sogar englische Vasallen. Das ergibt keinen Sinn.«
»Wer weiß schon, was in einem Vampirhirn vor sich geht?« Robin schenkte dem Vampirtempler einen entschuldigenden Blick.
Dieser lächelte lediglich, wurde jedoch schnell wieder ernst. »Was weißt du über König Richard? Ist er tot?«
»Nach allem, was man weiß, nicht. Es heißt, Leopold von Österreich halte ihn gefangen und wolle ihn nur gegen ein horrendes Lösegeld wieder freigeben.«
»Das John aber nicht zahlen will«, ergänzte Christian. »Er wäre ja schön blöd. Das Letzte, was er will, ist Richard wieder zurück in England zu wissen. Der König könnte der Funken sein, der die Machtbasis seines Bruders in Flammen aufgehen lässt. Er könnte den Widerstand anführen.«
Das Trällern eines Vogels hallte durch den Wald. Christian blieb schlagartig stehen. Robin jedoch bedeutete ihm, ruhig zu bleiben. Der Bogenschütze stieß ebenfalls ein Trällern auf, was mit einem weiteren Signal beantwortet wurde.
»Wir sind da«, erwiderte er mit einem Lächeln.
»Wo sind wir?«
»In unserem Lager.« Robin musterte ihn angestrengt. »Was denkst du, nachdem du jetzt alles weißt?«
»Ich denke, du brauchst Hilfe.« Er schlug dem Bogenschützen sanft auf die Schulter. »Und wir werden dir helfen. Keine Sorge. Ich lass mir etwas einfallen.«
Robin nickte und wollte sich davonmachen. Christian hielt ihn aber noch einmal zurück. »Wie habt ihr uns eigentlich gefunden?«
»Haben wir nicht. Wir waren hinter dem Vampir her, den du getötet hast. Und hinter der Frau, die bei ihm war.«
Christian neigte den Kopf leicht zur Seite. »Die Frau? Wer war sie?«
Tränen traten in Robins Augen, dennoch hielt er sich stoisch aufrecht und auch seiner Stimme war nichts anzumerken. »Ihr Name ist Marian. Sie ist … war … meine Verlobte.« Ohne ein weiteres Wort drehte sich Robin um und entfernte sich in Richtung einer kleinen Senke.
Karl stand plötzlich an Christians Seite. »Und?«, wollte der ehemalige Johanniter wissen. »Worauf haben wir uns dieses Mal eingelassen?«
Christian blickte seinen Freund an und verzog spöttisch die Miene. »Wie es aussieht, ziehen wir wohl in den Krieg.«
Karl ächzte leise. »Scheiße!«, war alles, was er dazu zu sagen hatte.
Christian folgte Robin hinein in die schmale Talsenke und blieb bereits nach wenigen Schritten stehen, gleichermaßen fasziniert wie beeindruckt.
Christian hatte ein provisorisches Lager erwartet, in dem Gesetzlose und Vogelfreie ihr erbärmliches, menschenunwürdiges Dasein fristeten. Die Wahrheit konnte nicht weiter entfernt sein. Inmitten des Sherwood Forest hatte sich ein kleines Dorf entwickelt. Es gab ausreichend Hütten für alle Bewohner, einen Schmied, eine kleine Schenke, eine Bierbrauerei und sogar eine Schule für die Familien, die es bis hierher geschafft hatten.
Bei ihrem Eintreffen strömten die Bewohner aus ihren einfachen, nichtsdestoweniger zweckdienlichen Behausungen. Hände streckten sich Robin ehrfurchtsvoll entgegen und dieser bemühte sich, sie alle zu berühren und auch ja keinen zu vergessen.
Christian stand mit offenem Mund daneben. Mit der Zeit verzog sich seine Miene zu einem Ausdruck der stillen Zustimmung. Nachdem alle begrüßt waren, kehrte wieder langsam Ruhe ein. Robin kehrte an Christians Seite zurück, mit einer Mimik, die man nur als Scham bezeichnen konnte.
»Das muss dir nicht peinlich sein«, schalt der Vampirtempler den Bogenschützen sanft. »Die Menschen hier verehren dich. Das würden sie nicht, wenn du ihre Zuneigung nicht wert wärst.« Christian deutete auf die Hütten und Menschen, die das kleine Tal säumten. »Das hier sagt mehr aus als all deine Ausführungen zuvor. Du bist der Anführer dieser Leute. Nicht, weil dich dein Adelsstand über sie erhebt, sondern vielmehr, weil sie dich zu ihrem Anführer erwählt haben. In unseren Zeiten kann das kaum jemand von sich behaupten. Du sagst zwar die ganze Zeit, du willst das nicht, aber ich muss zugeben, du machst dich gut in dieser Rolle.«
»Dennoch wünschte ich, es wäre nicht nötig gewesen.«
Christians Lächeln schwand. »Ja, du trauerst um deinen Vater. Ich verstehe das. Aber du kannst ihm nicht mehr helfen. Willst du ehren, was für ein Mann er gewesen ist, dann musst du denen helfen, die deiner Hilfe bedürfen.«
Robin seufzte. »Das habe ich vor. Aber einfach wird es nicht.«
»Ist es nie«, entgegnete Christian und musterte den Bogenschützen eingehend. »Du hast nicht mehr viel mit dem jungen Mann gemein, den ich damals in dieser Ordensfestung zum ersten Mal traf.«
Ein schalkhaftes Lächeln umspielte Robins Lippen. »Das scheint so lange her zu sein. Fast wie in einem anderen Leben. Er fehlt mir manchmal. Die Zeiten schienen einfacher zu sein.«
»Nicht einfacher«, widersprach Christian. »Der Feind war nur leichter zu erkennen.«
Ein riesiger Schatten trat plötzlich hinter Robin. Kräftige Arme schlangen sich um dessen Brust und hoben ihn mühelos hoch. Christian wich einen Schritt zurück und um ein Haar hätte er seine Klinge gezogen. Nur Robins ehrliches Lachen hielt ihn zurück.
»Lass mich runter, verdammt noch mal! Du blamierst mich vor unseren Gästen.«
Der Hüne ließ Robin überraschend sanft auf den Boden zurücksinken. Der Mann trat in den Schein einer Fackel. Bei Licht betrachtet, wirkte er noch größer als zuvor. Er war in Felle gekleidet und trug einen Stab auf dem Rücken. Das bärtige Gesicht wurde durch ein strahlendes Lächeln in zwei Hälften geteilt.
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