Sein Blick zuckte zur Treppe, aber die Dame, die der Ritter begleitet hatte, war verschwunden.
Die Tür flog auf und Männer in einfacher Kleidung, aber mit Bögen und Schwertern bewaffnet stürmten die Taverne. Die Hälfte von ihnen hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass keine Gefahr mehr drohte, machten sie einem hochgewachsenen jungen Mann respektvoll Platz.
Der Wirt wagte sich endlich aus der Küche. Beim Anblick des Anführers der Waldläufer brach er beinahe in Tränen aus. »Das ist Robin Hood. Robin Hood ist gekommen, um uns alle zu retten.«
Christian entspannte sich etwas beim Anblick seines alten Freundes. Er bedeutete den Templern, das Schwert wegzustecken, und bedachte den Mann, der da vor ihm stand, mit einem amüsierten Blick. »Robin Hood?«, meinte er verschmitzt.
Der Anführer der Waldläufer trat in die Mitte des Raumes. Den Bogen hielt er dabei locker in der Hand. Aus Erfahrung wusste Christian, dass dieser Mann meisterhaft damit umzugehen verstand.
Robin von Locksley seufzte. »Das zu erklären, dürfte nicht ganz einfach werden, alter Freund.«
Die Waldläufer nahmen die Templer im Schatten in ihre Mitte, als sie diese in die Dunkelheit des Sherwood Forest eskortierten. Jeder der Vampire war in dicke Gewänder zum Schutz der immer noch am Himmel stehenden Sonne geschützt.
Robin und er setzten sich etwas von den anderen ab. Christian begrüßte die damit einhergehende Privatsphäre, gab es ihm doch Gelegenheit, sich etwas mit seinem alten Freund zu unterhalten.
Schon bald umfing die Dunkelheit sie wie ein schützender Mantel. Je tiefer sie in den Sherwood Forest eindrangen, desto dichter standen die Bäume. Der Anführer der Templer im Schatten legte vor Erleichterung seufzend sein Gewand ab und stopfte es zusammengeknüllt in den Beutel auf seinem Rücken. Christian kam nicht umhin zu bemerken, dass die Wälder ringsum beinahe wie eine Festung wirkten. Wer sich im Inneren aufhielt, genoss einen gewissen Schutz. Wer aber von außen eindringen wollte, musste mit erheblichen Hindernissen rechnen. Vor allem der Einsatz berittener Streitkräfte würde sich extrem schwierig gestalten.
Christians Vampirsicht setzte ein. Mit einiger Verwunderung bemerkte er, dass Robin sich weiterhin leichtfüßig über das Gelände bewegte.
Christian lächelte leicht. »Wie lange lebst du schon hier?« Er deutete mit einer Hand ringsum.
Robin schnaubte. »Ein paar Monate.« Der Bogenschütze schüttelte leicht den Kopf. »Ich dachte, im Heiligen Land hätte ich alles gesehen. Alles erlebt. Und dann komme ich zurück und stelle fest, dass der Feind bereits unerkannt meine Heimat erobert hat.«
Christian runzelte die Stirn. »Erobert? Ist das nicht vielleicht ein zu starkes Wort?«
»Es gibt kein Wort, das zu stark ist, um unsere Situation zu beschreiben«, fuhr Robin fort. »Prinz John ist ein Vampir. Da bin ich mir sicher. Der Sheriff von Nottingham ebenfalls. Sie haben eine Schar blutgieriger Irrer um sich geschart und terrorisieren das Land. Dörfer, die sich ihnen widersetzen oder keinen Tribut entrichten, werden niedergebrannt. Männer werden erschlagen, Frauen vergewaltigt, Kinder zur Arbeit gezwungen.« Bitterkeit schlich sich in Robins Stimme. »Das ist nicht mehr das England, das ich kenne.«
Der Bogenschütze blieb unvermittelt stehen und zwang dadurch auch Christian, sich ihm zuzuwenden. »Wie konnte das geschehen? Ich dachte, mit DiSalvatinos Tod wäre die Sache ein für alle Mal beendet.«
Christian machte eine verkniffene Miene. »Die Dinge sind selten so einfach.« Er leckte sich leicht über die Lippen. »Nach allem, was man hört, geht Salah ad-Din mit äußerster Entschlossenheit gegen Vampirnester vor, wo immer er sie findet. Gut möglich, dass er einige von ihnen zurück nach Europa getrieben hat.«
Robin schnalzte mit der Zunge und setzte sich wieder in Bewegung. Christian folgte mit kurzer Verzögerung. »Ich weiß nicht recht. Diese Antwort fühlt sich irgendwie nicht richtig an.«
»Du hast eine andere Erklärung?«, hakte Christian nach.
»Ich glaube, die Vampire sind schon lange hier. Schon verdammt lange. Ich vermute, sie haben sich im Verborgenen gehalten, und als König Richard mit dem Gros der wehrfähigen Männer zu seinem Abenteuer loszog, haben sie zugeschlagen.« Robin spie aus. »Der Narr hätte zu Hause bleiben und seinen Thron verteidigen sollen.«
Christian dachte angestrengt über die Worte seines Freundes nach. »Du denkst, einige könnten sich die ganze Zeit hier versteckt gehalten haben?«
Robin nickte. »Im Verborgenen. Wartend. Ihre Chancen abwägend.«
»Zu welchem Zweck?«
Robin machte den Anschein, etwas sagen zu wollen, klappte dann aber die Kiefer lautstark zusammen und zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber was die Vampire hier aus dem Boden gestampft haben, das erreicht man nicht mal eben in ein paar Jahren.«
»Du denkst, Prinz John steckt dahinter?«
»Ich denke nein«, verneinte Robin. »Er war noch vor einigen Jahren ein Mensch. Da bin ich mir sicher. All das fing an, als Richard Löwenherz im Heiligen Land kämpfte. In diesem Zeitraum muss sein Bruder verwandelt worden sein.«
»Das bedeutet, sie haben nur auf den richtigen Augenblick gewartet. Der König, der das Land heilen und einen wollte, ist weg und sein machtgieriger Bruder ist eine leichte Beute.«
Robin sah verblüfft auf. »Was weißt du über die Zustände in England?«
Nun war es an Christian, die Achseln zu zucken. »Nicht viel. Nur das, was an Nachrichten über den Kanal kommt. Löwenherz stand dafür ein, Angelsachsen und Normannen unter einem Banner zu einen. Er stand zu England. John soll wohl nur zu seiner eigenen Schatzkammer stehen.«
»Das trifft es ganz gut. Die Vampire wollten wohl eine willfährige Galionsfigur an der Spitze haben.«
Christian nickte. »Das ergibt Sinn. Jemand, den sie leicht lenken können.« Der Vampirtempler rümpfte die Nase. »Das erklärt aber noch nicht, worin ihr Ziel besteht.«
»Krieg«, meinte Robin wortkarg.
Christian wandte sich ihm mit erhobenen Augenbrauen zu. Mit einer knappen Geste forderte er ihn zum Weiterreden auf.
»Mindestens zwei Drittel der Grafen und Herzöge sind inzwischen ebenfalls Vampire. Die wichtigsten unter ihnen. Und allesamt Normannen.«
»Was ist mit den Angelsachsen?«
»Die werden an der kurzen Leine gehalten. Der überwiegende Teil der Normannenstreitkräfte wurde inzwischen zu Blutsklaven gemacht.«
Christian nickte verstehend. »Tageslichtwächter für ihre blutsaugenden Herren.« Er war sich wohl bewusst, wie heuchlerisch sich dieses Schimpfwort aus dem Mund eines Vampirs anhören musste. Aber er betrachtete diese nicht als seinesgleichen. Die Templer im Schatten waren besser als das. Daran glaubte er. Daran musste er glauben. Sonst war alles, was Karl und er in den letzten Jahren erreicht hatten, bedeutungslos.
»Dann lebt also die Bevölkerung in einem Käfig der Angst«, stellte Christian fest.
Robin ließ den Kopf hängen. »Hier leben gute Menschen. Aber sie haben keine Chance gegen eine Armee aus Vampiren und ihren gut trainierten Truppen. Angst kann eine starke Kraft sein und ein schrecklicher Motivator.«
»Allerdings.« Christian warf seinem Freund einen kurzen Seitenblick zu. »Und wie passt deine Rolle in diese ganze Geschichte?«
Mit einem Mal wirkte der Bogenschütze sichtlich peinlich berührt. »Das ist … etwas kompliziert«, wich er zunächst aus. Als er an Christians Blick sah, dass dieser nicht lockerlassen würde, sprach er weiter. »Als mein Freund Will Scarlet und ich nach Hause zurückkehrten, war mein Vater verschwunden. Wahrscheinlich ist er längst tot. Und unser Haushofmeister war ein Vampir. Er hetzte seine Blutsklaven auf uns. Will blieb zurück.« Trauer ließ Robins Stimme versiegen. Er benötigte ein bisschen, um sich wieder zu fassen, und sprach schließlich weiter: »Er wird wohl auch tot sein. Jahre des Krieges im Heiligen Land hat er überstanden. Sarazenen, Skorpione und Krankheiten konnten ihn nicht zu Fall bringen. Dann kommt er nach Hause und wird von Vampiren abgeschlachtet.«
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