Als sie sich umwandte, sah sie, dass dieser Herr Garlier noch immer auf der Terrasse stand; sie fühlte, er hatte sie beobachtet. Und plötzlich schämte sie sich ihres knappen Badetrikots. Sie sprang ins Wasser zurück: sie wollte zum Ufer und sich in ihren Bademantel hüllen, der am Ende des Sprungbrettes lag. Aber dieser Mann wich nicht vom Fleck. Ein paarmal umkreiste sie das Floss, schwamm ein Stück dem Strande zu, dann wieder zurück; sie wurde müde, ihr wurde kalt. Sie begann, sich zu ärgern. Sie rief: „So gehen Sie doch bitte endlich weg!“ Da verbeugte er sich verbindlich und wandte sich ab. Schon war auch sie an Land, hastete über den schmalen Strand, raffte ihren Bademantel auf, warf ihn um die Schultern und eilte auf ihr Zimmer. —
Als sie zwei Stunden später zur Schiffsanlegestelle ging, hatte sie den Zwischenfall fast vergessen. Sie hatte sich wütend aufs Bett geworfen — was fiel diesem unverschämten Herrn Garlier ein? — hatte sich dann, weil sie fröstelte, die Decke über den Körper gezogen und war eingeschlafen. Im Schlaf verraucht aller Zorn schnell.
Ihr Weg führte sie an der Post vorbei, das Telegramm an Sophus fiel ihr ein. Sie trat in den Schalterraum, liess sich ein Formular geben und schrieb: „Dein Kommen zur Zeit zwecklos. Brief folgt. Herzlichst Be.“
Der Dampfer nach Campione, den sie eigentlich erreichen wollte, fuhr ihr vor der Nase weg. So wartete sie auf dem Steg das nächste Boot ab und fuhr nach Gandria, es war ja gleichgültig, wo sie ihren Kaffee trank; schön war es überall.
Das Gasthaus in Gandria ist an den Uferfels geklebt, seine Terrasse ist in den See hineingebaut. Man sitzt auf Holzbrettern und hört das Wasser unter sich glucksen. Be fand einen Platz unmittelbar am Geländer. Sie bestellte sich Getränk und Gebäck und döste über die glitzernde Fläche. Sophus kam ihr wieder in den Sinn; das Telegramm würde ihn enttäuschen, sie musste ihm wirklich nett schreiben, ganz einfach würde der Brief nicht werden.
Plötzlich hörte sie eine Stimme neben sich: „Sind Sie mir noch böse?“
Sie wandte sich um; es war dieser Herr Garlier. „Natürlich bin ich Ihnen noch böse.“
Er verbeugte sich leicht. „Oh, das tut mir leid.“ Dann rückte er einen Stuhl beiseite, schob sich am Tisch entlang und nahm ihr gegenüber Platz. „Sie gestatten doch“, fragte er, als er schon sass.
„Eigentlich wollte ich allein bleiben.“
Er schien die Worte zu überhören. „Sie dürfen den Vorfall heute nach Tisch nicht ernst nehmen“, sagte er. „Ich hatte wirklich nur rein technisches Interesse. Der Kopfsprung war tadellos.“
„Sind Sie Sportsmann?“
„Das nicht. Es war auch eigentlich nicht der Kopfsprung, der mich fesselte. Es war Ihre Figur ...“
Sie fuhr auf: „Erlauben Sie ...“
Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. „Sie müssen mich verstehen: ich bin Schneider — Damenschneider.“ Und ehe Be etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: „Sehen Sie, deshalb muss ich mich berufsmässig mit Frauen beschäftigen. Das heisst mit der Kleidung der Frauen und ihrem Sitz. Also mit ihren Figuren. Ich kann Ihnen zum Beispiel sofort sagen, dass das Seidenjäckchen, das Sie da neben sich liegen haben, nicht aus Paris stammt, wie Ihnen der Verkäufer wahrscheinlich gesagt hat, sondern rein deutsche Ware ist, ebenso wie die kleine Kette, die Sie um den Hals tragen und von der ich annehme, dass Sie sie erst hier in Lugano erstanden haben.“
„Richtig!“ sagte Be. Sie war plötzlich sehr aufmerksam. Genauer sah sie sich nun diesen Herrn Garlier an und stellte fest, dass er sehr gut angezogen war: weiches Seidenhemd, leicht blau getönt, hellblauer, vorsichtig rotgetupfter Flatterschlips, von einer gut auf das lichtgraue Jackett abgestimmten Farbe. Farben sah Be immer zuerst. Das Gesicht: ohne besondere Merkmale, auf der Oberlippe ein Bürstenbärtchen. Das mochte Be eigentlich nicht, Männer mussten glattrasiert sein. Alter: mindestens Dreissig, also jenseits ihrer Kameradschaftsgrenzen, fast schon in Onkelgebieten.
Die Kellnerin war an den Tisch getreten. Er bestellte Kaffee und Kuchen.
Dann wandte er sich wieder Be zu. „Also wir haben ein Modegeschäft.“
„Wir?“
„Ja — wir. Mein Vater und ich. Sie kennen Luzern? Sie kennen die grosse Hotelstrasse am See? Dort liegt es. Garlier & Fils. Wenn Sie auf Ihrer Rückreise in Luzern Station machen — ich würde mich sehr freuen.“
Be musste an sich halten, um nicht herauszuschreien: Da sind wir ja Kollegen. Etwas in ihr warnte sie vor diesem Ausbruch. Sie dachte plötzlich ganz berechnend: wie günstig, hier einen Fachmann unverbindlich ausfragen zu können. Sie wurde plötzlich sehr liebenswürdig. „Sie sind Franzose, Herr Garlier?“
„O nein. Nicht einmal Schweizer. Reichsdeutscher wie Sie. Und, Sie werden lachen, ich heisse eigentlich auch gar nicht Garlier. Mein Vater erwarb vor mehr als dreissig Jahren die Firma Garlier und da blieb der Name auch an uns hängen. Es war praktischer. Das Maison Garlier kannte in der Schweiz jeder Mensch.“
„Und Ihr wirklicher Name?“
Eine kleine Pause machte er, ehe er abwehrend antwortete: „Tut ja nichts zur Sache. Bleiben wir bei Garlier.“
Be hielt die Unterhaltung in Fluss, es war nicht schwer, denn Garlier fachsimpelte, wie alle Männer, gern. Er merkte gar nicht, dass Be ihn eifrig ausfragte. Und nicht nur nach modischen Dingen. Sie wusste bald, dass er Paul mit Vornamen hiess, seinen Kraftwagen von Luzern mitgebracht hatte, oft in Deutschland, England, Frankreich und Italien gewesen war. Beim Aufbruch erzählte er ihr, dass er unverheiratet und sein Vater Witwer sei. Sie musste lächeln: so schnell war sie noch nie über fremde Familienverhältnisse unterrichtet worden.
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