Der Seher löste sich von seinem Platz am Fenster. Sie wich nicht vor ihm zurück, als er näher kam. Sehr vorsichtig und langsam legte er eine Hand auf ihre Schulter.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er leise. »Aber wir müssen davon ausgehen, dass es nichts Gutes wäre.« Mitgefühl trat in seinen Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können.«
Wie bei ihrer Begegnung draußen im Dorf ging er wieder in die Hocke.
»Hast du noch Familienmitglieder? Jemand, der nicht in Amber Hall mit euch lebte, zu dem du gehen könntest?«, fragte er.
Lyraine schüttelte den Kopf. »Ich habe zwei Onkel. Sir Alaric und Sir Avallan. Sie sind die Brüder meiner Mutter. Onkel Alaric ist ihr Schild. Er war es, meine ich.«
»Und Sir Avallan?«, hakte der Seher nach.
»Er war einer der Herolde. Sie lebten beide auf Amber Hall.« Lyraine rieb ihre klammen Finger. »Sonst gibt es niemanden mehr.«
Niemanden. Jeder, der mit ihr das Blut geteilt hatte, war tot. Ihre Mutter, die Königin von Amber Hall, die es vermochte, bei jedem ehrfurchtsgebietend wie eine Löwin zu sein, aber im nächsten Moment die Maske der Politik vom Gesicht nahm, und einfach ihre Mama war. Ihr Vater, der nicht nur der Gefährte der Königin gewesen war, sondern auch ihr Ehemann, der mächtigste Mann der Provinz, der Alatans Schwert getragen hatte, der ihr nie wieder einen Kuss auf den Scheitel geben würde. Und mit ihnen der ganze Hof, Bron Nychester, Kay Hollow, Rogan und Brandon Dusk, ihr Onkel Avallan, Resemir Redwyne und Jonar Ironbrace. Selbst vom Königinnentrigon war nur der Truchsess geblieben, nur Meister Gorwyn.
Und obwohl sie verstand, dass es genau so sein musste – dass alle diese Männer tot waren, mitsamt der Köchin, den Burschen, die sich um die Pferde kümmerten, den Mädchen, die die Zimmer sauber hielten – obwohl sie die Leichen gesehen hatte, als Gorwyn sie hinausgetragen hatte, war sie sich für einen Moment völlig sicher, dass im nächsten Moment einer von ihnen in der Tür stehen und ihr sagen würde, dass alles eben doch nur ein schrecklicher Traum gewesen war.
Und als hätte sie selbst prophetische Fähigkeiten, lenkte eine Bewegung im Türrahmen ihre Aufmerksamkeit vom Seher weg, aber es war nur die Heilerin.
Nach einem kurzen Blick auf den Patienten wandte sie sich an Lyraine.
»Du solltest jetzt versuchen, dich ein wenig auszuruhen«, meinte Lenka.
Intuitiv wollte Lyraine protestieren, doch kein Laut kam ihr über die Lippen. Sie war müde, und sie wollte schlafen. Wenn sie schlief, dann musste sie nicht darüber nachdenken, dass die Wahrheit des Verlustes für den Rest ihres Lebens, wie kurz oder lang er auch sein möge, in ihr bestehen bleiben würde.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Varcas zu, doch er veränderte seine Position nicht. Lyraines Augen fanden die seinen. »Ich verspreche dir, ich werde mir etwas einfallen lassen.« Er sprach leise, vertraulich, obwohl die Albensinne der Heilerin sicher gut genug waren, um das Flüstern zu verstehen.
Varcas streckte die Hand aus, und ein weiteres Mal sah Lyraine sie an. Schneller, als sie darüber nachdenken konnte, legte sie ihre Hand in seine. Seine Haut war warm und angenehm, und ihre Hand verschwand fast völlig in seiner.
»Du hast mein Wort darauf«, fügte er hinzu, ihre Hand leicht drückend, bevor er sie entließ und sie sich der Heilerin näherte.
»Meister Gorwyn …« Sie hatte ihn beinahe vergessen, obwohl sie mit ihm in einem Raum war!
»Ich werde bei ihm bleiben«, versprach Varcas. »Und wenn du dich ausgeschlafen hast, ist er vielleicht auch wach.«
»Na komm«, sagte Lenka behutsam, doch die Hand, die sie auf Lyraines Rücken legte, ließ wenig Widerspruch zu. Aber etwas hielt sie zurück. Sie zögerte, obwohl sie ihre Entscheidung längst getroffen hatte.
»Meister Varcas.« Sie wandte sich noch einmal zu ihm um. »Mein Name ist Lyraine.«
Der Thronsaal.
Die warme Hand an seiner Wange.
Der Schmerz.
Die Scherbe.
Es war ein stolzer Tag.
Vielleicht der glücklichste in seinem ganzen bisherigen Leben. Er und die anderen gleichaltrigen Jungen hatten die Initiation an Beltâne hinter sich gebracht, das Blut war geflossen, und seine Rún hatte sich vervollständigt. Alatans Schwert, das Zeichen der Krieger, glänzte schwarz auf seinem Unterarm.
Es war der erste warme Tag nach einem langen Winter, aber im Kristallpalast war es dennoch kühl. Er trat mit vor Stolz geschwellter Brust ein und staunte über die Pracht des Thronsaals. Über die Schönheit der Königin, ihr helles, langes Haar, das so weich aussah, dass er die Hand ausstrecken und es berühren mochte. Sie lächelte ihm zu, ihr Haupt geneigt, sie bewegte ihre Lippen, aber es ging zu schnell, er konnte ihre Worte nicht hören.
Als man ihn an den Armen packte, war sein Gedanke nicht, sich zu wehren. Was, fragte er, was habe ich getan?
Er hatte nichts verbrochen. Sie hatten nicht versucht, wegzulaufen. Wohin hätte er auch laufen sollen? Thornehold, das früher sein Zuhause gewesen war, war kein besserer Ort.
Ihre Stimme war sanft und zärtlich, als sie sich ihm näherte. Noch war sie eine Handbreit größer als er, aber er wusste, das würde sich in den nächsten Wintern ändern.
Ihr Tonfall klang wie das Frühlingsgurren der Vögel, die auf den noch kahlen Ästen saßen und die zu schnell selbst für Tyrans Flügel waren.
Er fand sich auf den Knien wieder, und einer der Männer fasste in sein Haar. Sein Haar, hatte sie es bemerkt? Tyran hatte ihm gezeigt, wie die Askyaner einen Zopf banden, damit es beim Fliegen nicht ins Gesicht geriet. Hatte sie es bemerkt?
Mit einem Ruck zog einer der Männer seinen Kopf nach hinten. Dann war sie über ihm. Ihre Fingerspitzen streichelten seine Wange, die warme Hand, und dann sah er etwas glitzern. Zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger, gehalten durch ein paar Tropfen der Mahr, drehte sich ein Splitter aus Kristall, weiß, glänzend, ein Briolette-Schliff, ein spitzer, schmaler Tropfen wie die Opalohrringe seiner Stiefmutter. Sie kehrte die Spitze des Kristalls nach unten.
Die Hand an seiner Wange fand seinen Kiefer, ihr Griff wurde fester, die Stimme blieb sanft; er protestierte, als ihre Fingernägel sich in seine Haut gruben.
Der Kristall schwebte über dem Glaskörper seines Auges. Ein schreckliches Grauen erfasste ihn. Er war unfähig, sich zu rühren, obwohl er zappeln wollte.
Sie spannte ihre Hand weit auf und senkte sie herab, der Kristall wanderte ihrer Bewegung voraus, und dann war er da, an seinem Auge.
Er hörte jemanden schreien, als der Splitter sich an seinem Augapfel vorbei ins Innere seines Schädels bohrte. Die Wärme auf seiner Wange kehrte zurück, der Augenwinkel blutete, doch es war nicht vorbei. Tiefer und tiefer stieß sich der Splitter hinab, dort, wo der Sehnerv verlief.
Der Schmerz war so riesig, so gewaltig, dass er glaubte, sein Kopf müsste bersten.
»Du bist jetzt ein Mann«, sagte sie.
Er war zwölf.
Es war der Aufprall auf dem Fußboden, der Rodric aus seiner Bewusstlosigkeit riss – zu spät, um sich abzufangen. Nichts hatte ihn je weniger gekümmert als die Kratzer, die er sich an Knien, Armen und im Gesicht an dem Steinboden einfing.
Obwohl die Schmerzen in seinem Kopf, hinabwandernd durch sein Rückenmark in die Extremitäten, ihm immer noch die Sinne vernebelten und er nur Schwärze sah, reichte das Gefühl des Steins aus, um ihm untrüglich zu vermitteln, wo er war. Es war nicht der Kerker geworden, sondern sein eigenes Zimmer.
Rodric wusste nicht, ob er darüber dankbar sein sollte. Sein Körper war so randvoll mit Schmerzen, dass er in sich nichts entdecken konnte, was zu Erleichterung fähig war.
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