»Was hat dich so erschreckt?«, fragte Varcas, der sie losließ und sich zurückzog.
Lyraines Augen wanderten über sein Gesicht. Wenn sie doch nur auch ein Seher wie er gewesen wäre! Dann hätte sie unter seine Barrieren blicken können, um seine Gedanken zu lesen. Das konnten Seher doch, oder nicht?
Mit zitternden Fingern glättete Lyraine den Stoff des Kleides, das man ihr gegeben hatte.
»Ihr könnt zu mir sagen, was Ihr mögt – aber nennt mich nicht so.«
Es überraschte sie, als der Seher sich wieder vorbeugte. Der Blick aus den graublauen Augen war ernsthaft und klar.
»Ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder so nennen.«
Er fragte nicht, wieso. Aber sein Tonfall klang feierlich wie bei den großen Zeremonien in Amber Hall. Nicht geschwollen und albern, sondern so, als hätte er noch nie etwas so sehr gemeint wie diese Worte. Sie legte ihre Hand auf ihr Schlüsselbein und atmete tief durch. Das hatte Tovilda auch immer gemacht, wenn sie sich vorher schrecklich aufgeregt hatte.
Lyraine konnte fühlen, wie die Panik sich legte und der Erleichterung wich.
Der Seher lehnte sich zurück und schien zu warten.
»Ich wollte Euch … Fragen stellen«, griff Lyraine den Gesprächsfaden wieder auf.
Varcas lächelte erneut. »Nur zu.«
Lyraines Finger fanden einen losen Faden ihres Kleides und begannen ihn zu zwirbeln. Varcas strahlte eine Ruhe aus, von der sie sich am liebsten anstecken lassen wollte. Aber manchmal logen die Leute, das hatte ihre Mama ihr immer wieder gesagt. Manchmal durfte man nur sich selbst trauen.
Lyraine straffte ihre Schultern. Sie musste versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen, das seit … seit Amber Hall in ihrem Kopf herrschte.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen. Die Frage war aus Ihr herausgeplatzt, ungeformt. Es klang nicht so wie etwas, das ihre Eltern gefragt hätten. Ihre Mutter sprach anders mit Gesandten, mit fremden Herolden. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, die meiste Zeit über.
»Meinen Namen kennst du bereits. Als ich geboren wurde, tat ich das unter dem Namen Debray, aber außer mir gibt es heute niemanden, der diesen Namen trägt. Auch dass ich ein Seher bin, hast du schon festgestellt«, antwortete er. Er sprach flüssig, fand Lyraine. Es klang ehrlich; nicht so, als müsste er es sich ausdenken.
»Ich lebe in einem kleinen Haus im Norden von Shayla«, fügte er hinzu, »nah an der Grenze zu Askyan.«
»Das Sturmalbenheim«, warf Lyraine ein.
»Genau«, bestätigte er mit einem Lächeln, das sie von Meister Lewyn kannte, wenn sie etwas Kluges im Unterricht gesagt hatte.
»Wieso seid Ihr hier?«, stellte sie die nächste Frage.
Dieses Mal ließ er sich mehr Zeit, bis er antwortete. Er blickte hinab auf seine Hände mit den sauberen, gefeilten Fingernägeln. Viele adlige Alben trugen die starken Nägel, die sie von Natur aus hatten, genau so. Ein kurzer Blick auf ihre eignen Hände reichte zum Vergleich. Ihre Fingernägel waren tief gesplittert, sodass unter einigen sich Flecken mit Blut zusammengezogen hatten.
»Ich habe vorausgesehen, dass hier der Ort ist, an dem ich sein sollte«, antwortete er langsam, Lyraine aus ihrem Gedanken reißend. »Und wenn ich darüber nachdenke, ist es auch so.«
Er war also einer Vision gefolgt. Meister Lewyn hatte fast nie Visionen gehabt. An besonderen Tagen wie dem Yulfest, Beltâne im Frühling oder den Rauhnächten sprach er manchmal eine Weissagung für den nächsten Jahresabschnitt aus. Aber Meister Lewyn hatte auch nur eine himmelblaue Rún getragen.
»Darf ich dir ebenfalls eine Frage stellen?«
Lyraine zögerte nur kurz. Es war nur fair, wenn er sie auch etwas fragen durfte. Sie nickte.
Zu ihrer Überraschung stellte Varcas ihr seine Frage nicht sofort. Wie sie schien auch er nach Worten zu suchen.
»Weißt du, was bei euch zu Hause in Amber Hall geschehen ist?«, fragte er schließlich.
Lyraine nickte ein weiteres Mal. Das, was Gorwyn ihr erklärt hatte, war genug gewesen, um die meisten Lücken zu schließen. Sie fühlte, dass sie noch nicht alles verstand. Dass es Dinge gab, die vor ihrer Geburt stattgefunden hatten, Jahrhunderte oder Jahrtausende vorher. Dinge, die immer noch wichtig waren.
»Wenn du das weißt, dann … dann ist dir sicher bewusst, dass du nicht dorthin zurückkehren kannst«, sagte Varcas. »Und wir müssen überlegen, wo es für dich am sichersten wäre.«
»Am sichersten?«, fragte Lyraine nach.
Dass sie kein Zuhause mehr hatte, war offensichtlich. Die Flammen, an die sie sich zu erinnern glaubte, waren echt gewesen, und würden Amber Hall ausgehöhlt haben wie die Schale einer Nuss. Aber sie war dem Feuer entkommen. Und allem anderen auch.
Varcas stützte sein Gesicht nachdenklich in seine Hand.
»Weißt du, Nachtalbenkind, die Königin Lamia hat deine Familie aus politischen Beweggründen angegriffen und euer Zuhause zerstört. Du weißt, dass es in Shayla früher elf große Höfe gab, ja?« Er wartete dieses Mal nicht auf ihre Bestätigung, um weiterzusprechen. »Natürlich existierten kleine Höfe – die von Königinnen mit schwächeren Farben, die sich nur um Dörfer und kleine Bezirke kümmerten. Oftmals war dies gar nicht notwendig, wenn eine starke Heilerin oder Hüterin vor Ort war, die als Elderfrau oder mit einem Eldermann zusammen die Angelegenheiten eines Dorfes regeln konnte. Aber die elf Höfe von Shayla sind … sie sind mehr als nur Regierungszentren.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Ihr mir sagen wollt«, erwiderte Lyraine ein wenig unbehaglich.
Varcas’ Blick ruhte weiterhin auf ihrem Gesicht.
»Lass es mich so erklären: Ein Hof kann überall entstehen und eine Königin braucht kein Schloss und kein Anwesen, um zu herrschen. Aber diese Provinz, in der wir leben, wurde seit sehr langer Zeit traditionell von einem der elf Höfe regiert und zwar mit dem Sitz im Amber Hall. Du hast aber einen Anspruch auf die Festung, die Königin Lamia für sich fordert.«
Ihr wurde schlagartig ganz kalt.
»Aber Königin Lamia lebt doch im Kristallpalast«, sagte sie. Ihre Schultern sanken herab. Nicht nur, dass Amber Hall zerstört worden war, jetzt wollte diese … diese Frau sich in IHREM Zuhause einnisten? »Wieso will sie in Amber Hall einziehen?«, fügte Lyraine hinzu. Konnte der mächtige Seher das nicht verhindern?
»Ich denke nicht, dass sie dort einziehen will, Königinnentochter«, antwortete Varcas. Er erhob sich von seinem Stuhl, mit einem Mal sichtbar unruhig. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und wanderte ein paar Schritte durch den Raum. Lyraine sah ihm zu, wie er bis zum Fenster ging und die Vorhänge aus grobem Leinen zur Seite zog, um hinauszuspähen. Bald würden die Himmelslichter aufsteigen – im sich verdunkelnden Osten zeigte sich schon der Hauch des aufsteigenden, tiefen Grüns.
»Königin Lamias Macht beruht darauf, dass es ihr gelungen ist, viele Personen für sich zu gewinnen – und jene zu beseitigen, die sie nicht für sich einnehmen konnte. Als die Anzahl ihrer Anhänger groß genug wurde, haben sogar viele von denen, die sie nicht unterstützen wollten, aus Furcht die Seiten gewechselt.« Der Seher drehte sich um. Langsam strich er sich über den Bart, während er sich an das Fensterbrett lehnte. »Sie wird eine ihr treu ergebene Königin in Amber Hall einsetzen und den Hof neu gründen lassen. Eine Überlebende aus der vorher herrschenden Familie kann sie sich nicht leisten.«
Seine Worte kamen auf sie zu wie ein kalter Luftzug. Die Erkenntnis, was das zu bedeuten hatte, verdichtete sich mehr und mehr.
»Meister Varcas«, Lyraine erhob sich ebenfalls, »was wird Königin Lamia mit mir machen, wenn sie mich findet?«
Das Schweigen, das sich in dem Raum ausbreitete, verwandelte Lyraines Magen zu Stein. Auf einmal fühlten sich ihre Arme und Beine schwer an, ihr Kopf ganz leicht.
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