Der Alte schlummert erneut auf seinem Lager ein. Als er wieder erwacht, lässt das Sonnenlicht die Äste draußen in einem regenbogenfarbenen Schimmer aufleuchten. Alles wogt und glänzt, so als befände er sich an der Himmelspforte und die Bekümmernisse des Erdenlebens wären vorüber.
Nur ein Tagtraum. Denn falls es wirklich irgendeine Form des Weiterlebens nach dem Tode gäbe, dann wäre es wohl eher wahrscheinlich, dass er dort unten in den Flammen enden würde, bei seinen alten Freunden aus der Boheme. Zumindest wäre ihm ein Aufenthalt im Fegefeuer beschieden. Eine direkte Himmelfahrt könnte es wohl nicht geben; nicht nach allem, was er erlebt hat.
Es klopft an der Tür. Er zuckt zusammen.
»Herr Kunstmaler?«
Natürlich ist nur sie es, die Haushälterin aus der Küche. Wie gut, dass er ihr endlich beibringen konnte anzuklopfen – immer anzuklopfen –, bevor sie hereinkommt.
»Ja.«
»Störe ich?«
»Ein wenig.«
»Dann gehe ich wieder.«
»Nein, schon gut.«
»Ich habe etwas warme Suppe für Sie.«
»Ja, vielen Dank, Fräulein Berg. Was ich noch sagen wollte – schön, dass Sie nach Ekely zurückgekommen sind.«
»Natürlich bin ich zurückgekommen.«
»Hatten Sie schöne Osterferien?«
»Ja, danke der Nachfrage. Während der Messe zu Hause verkündete der Pastor, dass er sein staatliches Amt abgegeben habe, aber der Gemeinde weiterhin dienen wolle.«
»Tja, er muss ein mutiger Mann sein.«
»In vielen anderen Kirchen soll dasselbe passiert sein.«
»Tatsächlich, Fräulein Berg?«
»Ja, um die Bischöfe zu unterstützen. Der Herr Meister war also nicht beim Ostergottesdienst?«
»Aber nein, wo denken Sie hin?«
»Sie sollten ein wenig die Bibel lesen, bei dem schrecklichen Winter, den Sie hatten.«
Der Maler zuckt mit den Schultern und antwortet schließlich, mit einem Grinsen:
»Da müsste es dann wohl das Buch Hiob sein.«
»Sicher, warum nicht? Ich suche Ihnen gleich die alte Familienbibel heraus, dann können Sie es nachlesen.«
»Das ist wirklich nicht nötig, Fräulein Berg.«
»Wenn Sie sich weigern, nehme ich die Suppe wieder mit.«
»Tja, dann habe ich wohl keine andere Wahl.«
»Das haben Sie richtig erkannt, Herr M.«
Manchmal erlaubt er sich, auf diese Weise mit ihr zu scherzen. Nicht immer gefällt es ihm, aber in diesem Fall lässt er zu, dass sie die alte Bibel seines Vater hervorholt und auf den Nachttisch legt.
Er isst ein wenig Gemüsesuppe. Dann räumt er das Tablett beiseite und kauert sich unter der Decke zusammen.
Als er wieder erwacht, ist der Tag weit fortgeschritten.
Was ist mit ihm? Das Tablett ist weggeräumt. Dann war sie also hier drinnen, ohne dass er etwas gehört hat. Auch das mag er nicht, dass sie so einfach kommt und geht, wie sie will. Er räuspert sich.
»Fräulein Berg?«
Kein Laut aus der Küche. Er hustet und ruft noch einmal, jetzt etwas lauter:
»Fräulein Berg?«
Noch immer keine Antwort. Nervös schaut der Bronchitiker unter das Bett, um sich zu vergewissern, dass sein Verteidigungswerkzeug noch immer da liegt, wo es liegen soll.
Unmöglich zu wissen, wer hier auftauchen kann, wenn auf Ekely sonst niemand in der Nähe ist. Die Hunde unten – normalerweise kann sich Herr M. darauf verlassen, dass sie einen Höllenlärm machen, wenn ein Fremder einzudringen versucht. Aber was, wenn irgendwer das Futter für die Hunde mit Betäubungsmitteln versetzt hat; oder mit Gift?
Nein … diesmal wohl nicht.
Er hört ein wenig Gekläff von draußen. Nichts Ernstes. Nur jemand, der am Tor vorbeiläuft und weitergeht. Aus den Geräuschen der Hunde kann er schließen, dass niemand stehen geblieben ist, um ihn zu plagen, weder das Nachbarpack noch sonst irgendwer. Aber wo kann das gute Fräulein Berg nur hingegangen sein?
Grübelnd sieht er auf die Uhr. Ist die normale Arbeitszeit der Haushälterin gar schon vorüber?
Könnten vielleicht doch die Herren vom Reichskommissariat wieder aufgetaucht sein, die beiden, die ihn davon unterrichtet hatten, dass sein Besitz in Nedre Ramme aus militärischen Gründen beschlagnahmt war – und damit gedroht hatten, vielleicht zurückzukommen, um auch Ekely an sich zu reißen, zur freien Nutzung durch die Männer der neuen Zeit?
Sogleich spürt er die unglückselige alte Mischung aus Furcht und Zorn in seiner Brust aufkeimen.
Den beiden Uniformierten konnte er den Gratulationsbrief zeigen, den er vom deutschen Herrn Minister Goebbels zu seinem siebzigsten Geburtstag bekommen hatte. Ein Glück, dass er den Brief nicht weggeworfen hatte, so wie es ihm spontan in den Sinn gekommen war, als er ihn erhielt. Irgendetwas hatte ihn daran gehindert.
Wurde er in Deutschland nicht als einer der destruktiven modernen Maler betrachtet? Was bewegte bloß diesen Minister Joseph Goebbels, ihm einen Gruß zu seinem Jubiläumstag zu senden?
Das ist wirklich nicht leicht zu sagen. Könnte Doktor Goebbels womöglich ein klügerer Mann als dieser größenwahnsinnige Zwerg Adolf Hitler sein?
Nein, eine sichere Antwort darauf ist beileibe nicht einfach. Doch anstatt diesen Gruß von Goebbels in den Ofen zu stopfen, hatte er ihn immerhin aufbewahrt, in einem Stapel obskurer Papiere auf dem Flügel. Dort hatte er ihn schließlich gefunden – nach einigen Minuten intensiver Suche – und mit ein paar höflichen, auf Deutsch geäußerten Phrasen den beiden Offizieren vom Reichskommissariat überreicht.
Mehr war nicht nötig gewesen. Die Herren warfen einen Blick auf das Papier, nickten, knallten die Stiefelabsätze zusammen, salutierten und zogen sich zurück. Bis jetzt hatte er nichts mehr von ihnen gehört. Doch Nedre Ramme war und blieb beschlagnahmt, wie ihm schriftlich mitgeteilt wurde.
Nein, er kann nicht glauben, dass die Offiziere vom Reichskommissariat Fräulein Berg belästigt haben. Wahrscheinlicher ist es wohl, dass sie mit dem Fahrrad davongefahren ist, um irgendwo anzustehen, angelockt von dem Gerücht, dass die eine oder andere Kostbarkeit irgendwo aufgetaucht ist.
Echter Kaffee vielleicht? Krabben? Hummer? In diesem Fall müsste das Gewicht wohl mit Gold aufgewogen werden, aber zur Abwechslung von der alltäglichen Kost würde ihm ein kleines gastronomisches Feuerwerk durchaus kein Unbehagen bereiten.
Fräulein Berg muss also unterwegs sein, um einzukaufen. Nichts Schlimmeres. Er muss dem Rat des Arztes folgen – er darf die Nervosität keine Macht über ihn gewinnen lassen und muss vermeiden, dass ihn Angstgefühle übermannen. Der Alte steht auf und läuft ein paar Mal durch das leere Haus. Kein anderer Trost ist ihm in diesem Winter geblieben, als von Zimmer zu Zimmer zu gehen und seine Bilder zu betrachten – oder Fräulein Berg zu bitten, einen der Hunde hereinzulassen und ein wenig mit ihm auf dem Teppich zu spielen; ihn vielleicht in sein Skizzenbuch zu zeichnen.
Mit Ölfarben kann er nicht mehr arbeiten. Holt er ein seltenes Mal die Pinsel hervor, kommt früher oder später ein neuer Hustenanfall; fast so, als sei er ein wenig allergisch geworden, sowohl gegen Farbtuben als auch gegen Terpentingeruch. Der Arzt ist gnadenlos.
»Bettruhe«, verordnet er.
Und das, obwohl Doktor Schreiner ausgiebig darüber informiert wurde, wie sehr Herr M. es verabscheut, einen Monat nach dem anderen als Patient zu vergeuden. Zumindest ein wenig Zeit muss er jeden Tag außerhalb des Betts verbringen. Es gibt so viel, was zu erledigen ist. Nur er allein weiß, welche Ordnung im Hause herrscht.
Geduld!
Nichts anderes ist nötig. Ruhe! Ausdauer! Das behauptet Schreiner. Er kann es leicht sagen.
Der Bronchitiker zieht Pantoffeln an und wirft sich den Schlafrock über, wickelt einen Schal um den Hals und tappst in den Pantoffeln ein wenig umher. Andere mögen die Villa vielleicht als unordentlich betrachten – oder vielleicht sogar als chaotisch. Sollen sie nur. Er selbst weiß sehr genau, wo was zu finden ist und welchen Pfaden er durch die elf Arbeitsräume oben und unten folgen muss, um alles zu vermeiden, worauf er nicht treten darf, seien es nun Mausefallen, halbfertige Leinwände oder graphische Blätter.
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