Vielleicht ist es nur ein dummer Traum, auf Ekely Modell stehen zu wollen, denkt Dorothy. Vielleicht werden sie es niemals wagen, bei dem alten Großmeister anzuklopfen. Wenn sie sich wirklich trauen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie verjagt werden. Trotzdem kann sie sich den Entschluss, den sie beim Konzert in der Aula gefasst hat, als dieses seltsame Gefühl sie überkam, nicht aus dem Kopf schlagen – dieses Gefühl, aus ihrer jugendlichen Schüchternheit herausgerissen zu werden und für einen Moment eine höhere und weniger kleinkarierte Welt zu erblicken.
Der alte Freund Pola G. ist am Telefon und kündigt seinen Besuch an. Mit krächzender Stimme macht Herr M. ihm klar, dass sie wohl gezwungen sind, die Begegnung bis zum Sommer aufzuschieben.
Draußen am Rand des Grabens ist struppiger gelber Huflattich aufgetaucht. Winzige violette Krokusblüten ragen aus dem sonnenbeschienenen Beet neben der Veranda hervor. Doch immer noch liegt Schnee auf Ekely, dem prächtigen Besitz des verstorbenen Amtsgärtners Pettersen, oben auf der Anhöhe über der Vorstadt Skøyen in Vestre Aker.
Gegen Ende des Osterfests befällt Herrn M. erneut das Fieber. Es ist seine elendige Lunge, und der Halskatarrh ist auch zurückgekehrt. Er ist zu lange im Freien gewesen. In seinen Jagdstiefeln ist er von Bild zu Bild gelaufen, um zu prüfen, wie sie die Rosskur dieses Winters überstanden haben.
Mit den Malereien ist es wie mit den Menschen – sie müssen beweisen, ob sie zu etwas nütze sind oder nicht, sie müssen beweisen, dass sie etwas taugen. Vor fünfhundert Jahren, als der italienische Kapitän Querini Schiffbruch erlitt und sich mit ein paar Überlebenden aus seiner Mannschaft auf eine entlegene Insel weit oben bei den Lofoten rettete – und den ganzen Winter da draußen bei den Fischern auf Røst verbringen musste – konnte er bei seiner Rückkehr nach Italien in einem Bericht, den er über den Schiffbruch und die wundersame Rettung verfasste, erzählen, dass es bei Kindergeburten auf Røst üblich war, die Säuglinge für eine Zeitlang nackt in den Schnee zu legen, um zu sehen, ob sie genügend Kraft zum Überleben hätten.
Gemäß Kapitän Querini war dies eine Art, die Kinder abzuhärten. Neugeborene, die diese Prozedur nicht überstanden, hätten demnach ohnehin keine Chance gehabt, das körperlich anstrengende Leben eines Fischers auf den Lofoten zu ertragen.
Genauso, denkt Herr M., verhält es sich auch mit meinen Leinwänden. Sie müssen beweisen, dass sie stark genug sind, um Wind und Wetter zu trotzen. Wenn nicht, dann sind sie es auch gar nicht wert.
Deswegen lässt er sie eine Weile im Außenatelier stehen. Nicht alle, aber einige von ihnen. Es ist eine Prüfung, der er sie unterzieht. Nicht alle Neugeborenen auf Røst waren zum Überleben geschaffen. Dasselbe gilt für seine Entwürfe. Einige nimmt er mit herein, um vielleicht nach und nach ein wenig an ihnen zu arbeiten, wenn er denkt, dass sie genügend abgehärtet sind. Andere setzt er dem Aprilwetter aus, damit sie lernen, einen weiteren Witterungsumschwung auszuhalten. All dieses Hin- und Hergeräume der Bilder hat ihn über Ostern so ausgiebig beschäftigt, dass es seinem Altmännerkörper zu viel geworden ist.
Ein wunder und geschwollener Hals.
So ist er heute Morgen aufgewacht. Pfeifende Brust, schmerzende Bronchien, blecherner Husten, Schwindelgefühle. Fräulein Berg, sein dienstbarer Geist, klopft an die Tür.
»Herr Kunstmaler?«
»Ja.«
»Darf ich hereinkommen?«
»Bitte schön, Fräulein Berg.«
»Ich habe Ihnen etwas heißen Saft aus schwarzen Johannisbeeren mitgebracht.«
»Das ist lieb von Ihnen.«
»Ist Ihr Husten zurückgekommen?«
»Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen.«
»Sie bleiben ein paar Tage im Bett, Herr M.?«
»Ja, das ist wohl das Klügste.«
»Ich koche etwas Gemüsesuppe.«
»Sie wissen am besten, was zu tun ist, Fräulein Berg.«
Später, nach dem dampfend heißen Johannisbeersaft, zieht der Alte ein paar ungelesene Zeitungen aus dem Stapel unter dem Bett hervor, um sie durchzublättern. Anscheinend ist das Postschiff »Galtesund« – von dem man noch vor Ostern angenommen hatte, dass es irgendwo zwischen Flekkefjord und Stavanger untergegangen sei – in Wirklichkeit von ein paar jungen Leuten gekapert worden, die den Schiffsführer mit Waffengewalt zu einer Kursänderung in Richtung England zwangen.
Reinste Piraterie vor der frommen Küste Südwestnorwegens! Kaum zu glauben, dass das wirklich passiert ist. Andererseits ist es durchaus erheiternd, dass etwas Derartiges tatsächlich geschehen konnte und die Behörden nichts bemerkt haben, bevor sich die »Galtesund« auf der anderen Seite der Nordsee einfand. Eine merkwürdige Geschichte! Und offenbar ist niemand dabei umgekommen.
Im Laufe des Tages tritt der neue Verwalter an Herrn M.s Krankenlager. Mit seinen Sommerprossen und dem roten, in der Mitte gescheitelten Schopf steht er da, um Herrn M. davon zu unterrichten, dass die Kuh auf Ekely trächtig ist.
»Hatte wohl ein Abenteuer, bevor ich zu Ihnen kam, Herr Meister!«
»Ja, das ist mir völlig klar. Ich habe für den Zuchtochsen bezahlt. Die Affaire führt also zu einem handfesten Ergebnis?«
»Jaha.«
»Sind Sie sicher?«
»Bin auf ’nem Hof aufgewachsen.«
»Ach so. Dann wollen wir hoffen, dass Sie Recht haben!«
»Warten Sie’s nur ab, Herr M.«
Dann ist also keine erneute Tour zum Zuchtochsen nötig; falls sich der neue Verwalter tatsächlich so gut mit Tieren auskennt, wie es den Anschein hat. Im Laufe des Sommers kommt demnach ein neues Kalb, rechnet der Maler sich aus. In drei bis vier Monaten wird es eine Zeitlang keine frische Milch und Sahne mehr geben; alles geht dann nur noch an das Neugeborene.
Vom vorherigen Verwalter musste sich Herr M. notgedrungen trennen.
Das war keine leichte Angelegenheit gewesen. Aber er war der Ansicht, dass er keinen Mann bei sich angestellt haben könne, der derart fragwürdige Sympathien hegte. Nach den ersten gemurmelten Auseinandersetzungen fürchtete der Maler sehr, dass sich der Mann nun aus Rache mit den Vertretern der neuen Ordnung alliieren würde, um Ekely von der Besatzungsmacht beschlagnahmen zu lassen – so wie es schon mit dem Gut »Hoff« geschehen war, das da mitten in seiner Aussicht liegt, nur zweihundert Meter südlich von Ekely.
Wieso? Weil es unmöglich zu wissen ist, was sich solch erbärmliche Menschen ausdenken können. Außerdem war irgendetwas Niederträchtiges an diesem Mann; dieses Gefühl hatte er schon lange. Die Situation war dann so nervenzehrend geworden, dass er keinen anderen Ausweg sah, als alles seinem Anwalt zu übergeben. Das zog zwar zusätzliche Kosten nach sich, aber eine andere Möglichkeit war nicht in Sichtweite.
Und die Einigung, wie sah sie aus?
Drei Monate zusätzliches Gehalt musste der Rechtsanwalt diesem Schurken schließlich anbieten, um ihn loszuwerden. Im Gegenzug wurde vereinbart, dass er augenblicklich aufhörte, Herrn M. und seine Haushälterin zu quälen, dass er mit sofortiger Wirkung seine Bleibe in der Gesindestube räumte sowie sich schriftlich verpflichtete, auf alle rechtlichen Schritte gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber zu verzichten.
Diese aufreibende Angelegenheit kam noch zu all den anderen Dingen hinzu, mit denen er sich im neuen Jahr herumplagen musste – das Fieber, die Influenza, die Hustenanfälle, die Bronchitis, der Halskatarrh, die düstere Kriegsentwicklung sowie sein anhaltendes Unvermögen, als Maler zu arbeiten.
Ist es da so ungewöhnlich, dass er sich elend fühlt? Ist es so seltsam, dass dieser Winter ihn beinahe völlig zerbrechen ließ? Ist es verwunderlich, dass er sich in regelmäßigen Abständen entweder für die Irrenanstalt oder das Leichenhaus bereit fühlte?
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