Kari und Doffy gehen zu ihren Plätzen weiter hinten im Saal.
An diesem Abend sind drei große Klassiker aus Deutschland und Österreich angekündigt. Zuerst kommt Johann Sebastian Bachs feierliche »Suite in C-Dur«. Dann Wolfgang Amadeus Mozarts bekannte Perle »Eine kleine Nachtmusik«. Danach die dramatische fünfte Symphonie von Ludwig van Beethoven, angesetzt als musikalische Schlussfanfare – die sogenannte »Schicksalssymphonie«. Im aufgeregt tuschelnden Saal, der sich erst beruhigt, als der Dirigent den Taktstock hebt, gibt es so viele unterschiedliche Menschen. Was ihnen gemeinsam ist, allen gemeinsam, ist ihre Liebe zur klassischen Musik. Zugleich gibt es im Programm dieses Abends Dinge, die die verschiedenen Teile des Publikums ganz unterschiedlich deuten werden.
Alle hören zu. Man kann den Rücken der Zuhörer ansehen, wie aufmerksam sie lauschen.
Manches davon, was in einem besetzten Land vor sich geht, spielt sich ab in dem gefährlichen Spielraum zwischen dem Angedeuteten und dem Ungesagten – so kommt es doch oft?
Bei Dorothy ist es an diesem Abend jedenfalls, als öffnete das Orchesterbrausen bei Bachs Suite ihre Ohren auf eine aufmerksamere Weise als zuvor. Bei Mozarts elfentanzhafter Nachtmusik schließt sie die Augen und lässt sich einfangen, wie von einem schönen Traum. Aber der alternde, halbtaube Beethoven lässt sie rein körperlich zusammenfahren.
Ta-ta-ta-dam!
Satz für Satz lässt sie sich mitreißen von der guten alten Schicksalssymphonie, die sich durch das, was in Europa geschehen ist, verändert und doch wieder nicht verändert hat.
Weg, sie wünscht sich weg. So weit weg wie möglich aus diesem trostlosen Winteroslo mit Eisbuckeln, verstohlenen Blicken, deutschen Soldaten, geknechteten Norwegern, Ruß, Hundedreck und Pissflecken in den Schneewehen. Einige Minuten lang hat sie das Gefühl, in der Musik zu verschwinden – fort aus ihrem Leben, so, wie es ist, und hinein in das, was sein könnte.
Die Symphonie erhebt sie.
Und dann passiert etwas Seltsames.
Je länger sie die Rückwand hinter dem Philharmonischen Orchester anstarrt, um so klarer sieht sie das Bild vor sich, das früher hier gehangen hat – nicht nur in großen Zügen, sondern mit einer Reihe von kleinen und großen Details, die lebensspendende Sonne da draußen am Horizont, die kleinen und großen Inseln in dem unbewohnten Teil des Schärengürtels, das Licht, in dem die vielen Farben sich brechen, die schnurgeraden Linien, die auf die Zuschauerin zuführen.
Es ist wie eine Vision – sie hat das Gefühl, das Bild haargenau neu erschaffen zu können, so wie es ist, oder jedenfalls mit einem so großen Grad der Genauigkeit, dass es wirklich erscheint.
Im selben Moment scheint durch die Musik eine Stimme zu ihr zu sprechen.
»Gib dich nicht mit Kleinigkeiten zufrieden«, flüstert diese Stimme.
Woher kommt sie?
Kann das leise Flüstern von Kari stammen, die neben ihr sitzt? Nein, so kommt es ihr nicht vor, möglicherweise ist es gar keine menschliche Stimme, vielleicht ist es ihr Schutzengel, der ihr diesen Rat gibt, oder ein anderes Wesen, irdisch oder nicht-irdisch.
Das alles füllt ihre Brust – der letzte triumphierende Satz der Schicksalssymphonie, das prachtvolle Bild der Sonne im Schärengürtel, das durch die Kraft ihrer eigenen Phantasie die Rückwand füllt, die flüsternde Stimme.
Als sie wieder zu sich kommt, hat sie das Gefühl, dass der Entschluss gefasst worden ist – nicht so sehr von ihrem alltäglichen Selbst wie von der stolzen Dorothy, zu der sie zu werden schien, als sie sich von dieser kraftvollen inneren Welle erheben ließ.
»Bravo!«, ruft sie spontan, als in der Aula der Applaus losbricht und die Menschen in ihrer Begeisterung aufspringen. Kari und Doffy wechseln einen Blick, als sie dort stehen, mit Schweißperlen auf der Oberlippe und glühenden Wangen.
Die Temperaturen draußen sind inzwischen unter Null gesunken. Eine neue Schneeschicht hat sich auf das Eis gelegt und alles ist etwas glatter geworden. Als sie Slottsbakken hochgehen, wendet Doffy sich zu Kari um und murmelt durch den blaugrauen Stadtnebel:
»Weißt du, was?«
»Nein?«
»Da drinnen ist etwas passiert.«
Der Nebel hängt jetzt so tief über dem Park, dass sie kaum vom einen Baum zum anderen sehen können.
»Was denn?«
»Naja, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. In diesem Winter hatte ich das Gefühl, das Leben sei so ungeheuer grau geworden, und gegen Ende des Konzerts wurde ich irgendwie von mir selbst weggerissen.«
»Wie denn das?«
»Hast du mir da drinnen etwas zugeflüstert?«
»Wann denn?«
»Beim letzten Satz?
»Nein.«
»Dann muss das eine Art Halluzination gewesen sein. Ein Trugbild, wie das unser alter Klassenlehrer genannt hat.«
Kari lacht ihr perlendes Lachen und fragt mit Norwegischlehrerstimme:
»Hast du tatsächlich ein Trugbild erlitten, Dorothy?«
»So kam es mir jedenfalls vor. Eine flüsternde Stimme und eine Vision von etwas, das nicht da war.«
Die beiden jungen Studentinnen wechseln einen raschen Blick.
»Ta-ta-ta-tam!«
»Ta-ta-ta-tam!«
Für einen Moment singen sie zusammen und dann brechen sie beide in überschäumendes Gelächter aus.
Spontan berührt Dorothy Karis Hände mit ihren behandschuhten Fingern, jetzt, da sie den dunkelsten Teil des Schlossparks erreicht haben. Das tun sie ab und zu – ein Ausdruck der Wärme und Vertraulichkeit. Außerdem fällt es Doffy leichter, das zu sagen, was sie sagen will, seit sie die Aula verlassen haben, jetzt, wo ihre Gesichter im Schatten liegen.
»Sowie es Frühling wird, finde ich, sollten wir zum Großmeister fahren. Oder was sagst du?«
»Welchen Großmeister meinst du denn?«
»Den in Skøyen natürlich.«
»Und was wollen wir da?«
»Modell stehen. Darüber haben wir doch geredet.«
»Geredet, ja.«
»War das denn nicht dein Ernst?«
Die beiden Freundinnen schauen verlegen ihre Stiefelspitzen an. Sie rutschen auf dem eisglatten Schnee aus und packen einander, um nicht zu stürzen. Sie schweigen, während sie den Straßenbahnschienen der Riddervoldsgate folgen, dann murmelt Kari:
»Das ist vielleicht leichter gesagt als getan, Doffy.«
»Warum sagst du das?«
»Das war doch nur Gedankenspinnerei. Glaubst du, er kann überhaupt noch malen?«
»Kann er bestimmt.«
»Na, ich bin mir nicht so sicher.«
»Willst du damit sagen, dass du dich nicht traust?«
»Was heißt schon, nicht traust.«
»Er wird im Dezember neunundsiebzig. Es muss in diesem Frühling passieren, oder nie, Kari. Das ist dir doch auch klar, oder?«
»Er wird uns doch nur vor die Tür setzen, Doffy.«
»Na und? Wenn wir es jetzt nicht versuchen, werden wir es unser Leben lang bereuen. Das ist unsere letzte Chance, oder was?«
»Naja, mal sehen …«
Sie gehen schweigend weiter, durch den Briskebyveien. Bei der Ecke Eilert Sundts gate ruft Doffy:
»Ich tu es, egal, was du sagst.«
»Wann denn?«
»Sowie es Frühling wird.«
»Traust du dich denn wirklich?«
»Das kannst du mir glauben.«
Der Springbrunnen in der Senke liegt kalt und winterlich abgesperrt da. Sie überqueren die Gyldenløves gate und gehen weiter den schlecht gestreuten Hang vor den Mietshäusern der Lille Frogner allé hoch, wo sie in einem idyllischen, aber ein wenig zu schlecht isolierten Gartenhaus oberhalb der Treppen zur Straße ihr Zimmer haben.
Schon als junge Mädchen haben sie beide unabhängig voneinander für den Meister auf Ekely und seine wundervollen Bilder geschwärmt.
Es war damals auf der kleinen Ausstellung von Graphik und Gemälden bei Holst-Halvorsen, unmittelbar vor dem fünfundsiebzigsten Geburtstag des Malers. So fing es an zwischen der blonden Doffy und der dunklen Kari. Ein einziges Mal haben sie den Meister von Ekely dort gesehen, in eigener Person tauchte er auf, um dann sofort wieder zu verschwinden. Und den Eindruck eines schüchternen älteren Herrn mit Adlernase zu hinterlassen.
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