Im Schloss residieren jetzt die neuen Herren des Landes. Nach Wochen mit klirrendem Frost ist die Temperatur über Null gestiegen, und Schneematsch bedeckt den Weg. Quer vor dem Parlament hängt etwas Weißes und Widerliches, auf dem geschrieben steht: »Deutschland siegt an allen Fronten!« Das Abstoßendste an dem überdimensionalen Banner ist, dass man es nicht einmal als direkte Lüge betrachten kann.
Früher oder später wird sich das Blatt wenden, da ist sich Doffy sicher. Aber der Krieg dauert schon so lange, und noch ist es nicht so weit.
»Vielleicht nie!«
Es kommt ihr vor wie eine Art Tabubruch, das vor sich hinzumurmeln, während sie ziellos durch die Straßen schlendert. Aber es geschieht bisweilen, dass sie so empfindet – und in letzter Zeit ist es häufiger vorgekommen.
In der Stortingsgate liegt das Rekrutierungsbüro der Norwegischen Legion. Doffy presst die Lippen aufeinander und schaut weg. Ein Jugendfreund aus ihrem Heimatort hat sich anwerben lassen, einer, dem sie so etwas niemals zugetraut hätte. Unvorhersagbar ist dieser Krieg geworden, unbegreiflich, wer wo gelandet ist – bei Überläufern, Widerstandskämpfern oder den Angepassten. Die meisten ihrer Familienangehörigen sind deutschfeindlich, aber auch in ihrer Verwandtschaft gibt es diese drei Menschengruppen; und die Anpassungsfähigen sind bei weitem die größte.
Möglicherweise ist es so in allen besetzten Ländern, in diesem Winter, in dem fast ganz Europa unter dem, wie Kari es mit einer Grimasse nennt, »schwarzen Stiefelabsatz« gelandet ist, und die militärisch tadellos gelaufene Expansion, die in den dreißiger Jahren mit dem Sudetenland, dem Anschluss und den Zusammenstößen zwischen deutschen Panzern und polnischer Kavallerie im Tiefland bei Danzig begonnen hatte, scheint sich jetzt in den vierziger Jahren mit unverminderter Kraft fortzusetzen.
Wird Moskau besiegt werden? Wird Nordafrika den Achsenmächten in die Hände fallen? Wird der japanische Gottkaiser ganz Südostasien unterwerfen? Es kommt ihr wie ein Frevel vor, sich solche Fragen zu stellen, aber in einer Stimmung wie jetzt ist es trotzdem schwierig, sie zu ignorieren.
Ein grauer Wintertag in der von Deutschen besetzten Provinzhauptstadt, voller nebelhafter Menschen mit ausweichendem Blick und gebeugtem Nacken. Die Gesichter, die ihr auf Karl Johan begegnen, kommen ihr ebenso kalt, weiß und gespenstisch vor wie ihr eigenes Gesicht an diesem Abend.
Aber die Söhne der Witwe in Nachbarhaus in Frogner, wo Doffy und Kari ein Zimmer gemietet haben, scheinen jedenfalls in der Widerstandsarbeit gelandet zu sein. Was sie genau machen, weiß Doffy nicht. Einmal in diesem Winter konnte sie Kåre, dem älteren Bruder, aus einer Klemme helfen. Seit Doffy ihm in einer gefährlichen Situation ein Alibi verschafft hat, weiß er immerhin, dass er in der Not mit ihr rechnen, und sie weiß, dass sie sich auf ihn verlassen kann.
Dass im Februar auf den beiden Bahnhöfen der Stadt Bomben hochgingen, in der Nacht, nachdem der überhebliche norwegische Führer Quisling in der Festung Akershus seinen Staatsakt durchgeführt hatte – könnten die Brüder aus dem Nachbarhaus damit etwas zu tun gehabt haben?
Nein, so viel Mut haben sie nicht. Aber Doffy ist aufgefallen, dass die beiden trotz ihrer Jugend ziemlich viel zu wissen scheinen, wenn sie mit aller gebotenen Vorsicht ihre Fragen stellt. Vielleicht kennen sie in der Nähe jemanden, der ein heimliches Radio besitzt – oder sie helfen bei der Produktion einer illegalen Zeitung?
Ein blonder deutscher Offizier mit auffallend stechendem blaugrünem Blick spricht sie an:
»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein? … Darf ich fragen, warum Sie heute Abend so melancholisch sind?«
Doffy starrt ihn eiskalt an, schüttelt den Kopf und läuft weiter.
Durch diese Episode fühlt sie sich – besudelt.
Auch die Spazierwege in Studenterlunden kommen ihr an diesem Abend widerlich vor – es wimmelt von gelben Flecken in Schneewehen und Eisbuckeln, von weggeworfenem Papier, Zigarettenstummeln, Erbrochenem und anderen Scheußlichkeiten. Wenn sie den Blick hebt, sieht sie, wie viele im Vorüberlaufen ihrem Blick ausweichen. Oslo scheint zu einem Wechselbalg von Hauptstadt verkommen zu sein, einer Stadt, um die sich niemand kümmert und auf die niemand stolz ist.
In der Stadt wimmelt es ja auch von diesen Deutschen in ihren schmutziggrünen Uniformen. Sie sind weit weg von ihren Schwestern, Freundinnen und Müttern – und ihre Augen scheinen um weibliche Aufmerksamkeit zu flehen, und sie sind auch nicht so plump wie viele junge Norweger, sie treten mit einer gewissen Eleganz auf. Es ist natürlich möglich, sich ihnen gegenüber korrekt zu verhalten. Viele sind sicher nicht einmal Nazis, unter ihren Uniformen sind auch sie Menschen. Aber ihnen deshalb ein Lächeln oder Freundlichkeit zu schenken, das wäre etwas anderes.
Plötzlich schaut ein junger Deutscher ihr ins Gesicht. Es sind dieselben blaugrünen Augen wie vorhin, oder nicht? Sie wendet sich eilig von ihm ab, tritt in ihrer Verwirrung in einen halbgefrorenen Hundehaufen, schneidet eine wütende Grimasse und eilt weiter.
Hinter einem Baum am anderen Ende von Studenterlunden versucht sie errötend, den Hundekot zu entfernen, indem sie immer wieder mit dem Stiefeln in eine Schneewehe tritt. Dann läuft sie durch eine Pfütze nach der anderen, und am Ende abermals durch zwei Schneewehen – um den widerlichen Gestank loszuwerden.
Schwerer, feuchter Schnee fällt jetzt vom tiefhängenden Himmel. Endlich erscheint Kari beim vereinbarten Treffpunkt. Sie umarmen einander.
»Tut mir leid, Doffy.«
»Macht doch nichts. Hier ist deine Eintrittskarte.«
»Danke, was bin ich dir schuldig?«
»Eins fünfzig.«
»Mehr nicht?«
»Die zu zwei Kronen waren ausverkauft. Riechst du etwas?«
»Wieso das denn?«
»Ich bin in einen Hundehaufen getreten.«
»Lass mal sehen.«
Verlegen hält Dorothy ihr den Stiefel hin. Die Freundin beugt sich darüber, mustert ihn, schnuppert.
»Ich glaube, das ist in Ordnung.«
»Nichts?«
»Ich rieche jedenfalls nichts.«
Sie überqueren Karl Johan, um sich der langen Schlange anzuschließen, die sich schon unterhalb der Säulen von Domus Media im Schneegestöber aufgestellt hat. Doffy murmelt:
»Mir ist ein Mann nachgestiegen.«
»Wer denn?«
»Ein deutscher Offizier, igitt.«
Kari nickt und mustert sie aufmerksam. Um das Thema zu wechseln, fragt Dorothy:
»Na, hast du dich mit deiner Mutter und deinem Stiefvater versöhnt?«
»Irgendwie schon.«
»Wie geht es denn deiner Mutter?«
»Ach, sie wird jetzt ganz schön umfangreich.«
»Was für eine Vorstellung, schwanger zu sein, in ihrem Alter!«
»Sie war ja erst achtzehn, als ich mich angemeldet habe.«
»Trotzdem. Noch ein Kind zu bekommen, nach so langer Zeit …«
»Jetzt hör aber auf, Doffy. Da höre ich mich doch furchtbar alt an.«
Sie sehen einander an und lachen.
»Aber das bist du doch nicht, Kari. Alt bist du nicht. Das ist das Letzte, was ich über dich sagen würde. Dein Vater, gibt es über den was Neues?«
»Er kommt jedenfalls nicht zurück.«
»Wissen sie denn mehr drüber, was passiert ist?«
Kari schüttelt den Kopf und wirft sich Dorothy in die Arme. Auch ihr, Doffy, treten Tränen in die Augen. Die Menschen in ihrer Nähe blicken zu Boden. Dicke Schneeflocken legen sich auf Mützen und Schultern.
»Verzeih mir, Kari. Das war eine so dumme Frage.«
»Wer hier dumm ist, das bin ich, Doffy.«
»Es ist ja wohl nicht dumm, dass du um deinen Vater trauerst.«
»Ich wünschte nur, er wäre nicht so mutig gewesen.«
Weit vorn werden jetzt die Türen der Aula geöffnet. Unter dem Vordach schütteln sie den Schnee ab. Beim Eingang zeigen sie dem Kontrolleur ihre Karten, dann dürfen sie den vollbesetzten Saal betreten. Wie beim vorigen Besuch hier kommen ihnen die nackten Wände seltsam fremd vor – ohne Alma Mater, den Eichbaum mit dem Großvater und dem Knaben, und ohne das farbensprühende Sonnenbild an der Rückwand hinter dem Orchester. Alle die mächtigen Wandgemälde hier wurden zusammengerollt und weggebracht, nachdem die Deutschen in Oslo einmarschiert waren. Die Aula wirkt seltsam kahl und ausgeraubt ohne die Monumentalgemälde. Warum wurden diese Bilder entfernt? Gerüchte wollen wissen, dass sie an irgendeinem unzugänglichen Ort versteckt worden sind, um nicht zu riskieren, dass sie beschädigt oder von der Besatzungsmacht als »entartete Kunst« beschlagnahmt werden.
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