Herr M. hält sich in dieser Hinsicht für urteilsfähig, denn zehn Jahre lang erlebte er selbst diese Verwüstung.
Er ist zwar kein junger Mann mehr, aber noch immer lodert tief in seinem Innern das Leben, wenn auch nur wie halberloschene Glut. In all den Jahren fühlte er sich bei seiner Arbeit allein dadurch stimuliert, etwas Konkretes sehen zu können – vielleicht am liebsten, wenn er es direkt vor Augen hatte, sei es nun ein flacher Kieselstrand am Fjord, ein aufgescheuchtes Pferd, ein Paar unter einem Apfelbaum oder ein unbekleideter Mensch.
Seitdem er es sich leisten konnte, hat er sich an Modelle gehalten; unregelmäßige Besucherinnen oder manchmal auch Hausgenossinnen. Unleugbar haben diese jungen Frauen ihm geholfen, das Leben besser auszuhalten.
Doch Hanna aus Senja ist jetzt in Troms – hier auf Ekely malte er Hanna in ihrem Luchspelz unter dem blühenden Kastanienbaum, und in Åsgårdstrand ließ er sie Fausts Gretchen spielen –, zurückgekehrt in die nördliche Heimat, um dort zu heiraten, nachdem sie fast ein ganzes Jahrzehnt für ihn gearbeitet hat.
Natürlich ist es schon früher passiert, dass eine junge Frau auf diese Weise aus seinem Leben verschwand – weil ein anderer Mann, entschlossener als Herr M., in ihr Dasein trat.
Aber bis ganz hinauf nach Nordnorwegen?
War es wirklich nötig, so weit fortzugehen?
In Wirklichkeit ist das wohl ein Zeichen. Alles ist vorbei, soll es bedeuten. Die Arbeit ist beendet, und das Leben verebbt, mit jedem Winter etwas mehr.
Nein, es gibt nur noch wenig Anzeichen von Vitalität in ihm. In Wirklichkeit ist es wohl nur sein alter Freund Gottfried Tod, der jetzt noch auf ihn wartet und zwischen den Fledermäusen im Ulmenwald herumspioniert, stets bereit, Schluss zu machen, sobald er sich auch nur einen winzigen Fehltritt leistet – und ihn in Stücke zu reißen und den Würmern und Maden zum Fraß vorzuwerfen, bis nur noch abgenagte Knochen übrig sind.
Schon immer ist Gevatter Tod dort irgendwo in der Dämmerung bei ihm gewesen, wie ein treuer, aber unsichtbarer Gefährte. Jahr für Jahr. Jahrzehnt für Jahrzehnt. Wie seltsam, dass er diesen Gottfried mit dem unsichtbaren roten Umhang so lange überlisten konnte. Ein so argloser Mann wie er!
Etwas muss es dennoch gegeben haben – eine innere Zähigkeit –, die ihn zu einem Überlebenden machte.
Er wirft einen Blick auf den eisernen Ofen. Schon immer wusste er das brüllende Geräusch der Flammen in einem Holzofen zu schätzen. Etwas Anheimelndes und Tröstendes geht davon aus, ein Geräusch, das ihn an die Wohnung unten in der Quadratur hinter der Festung Akershus erinnert, als seine Mutter noch lebte.
So viele Jahre sind seitdem vergangen. Und dennoch passiert es, dass er sie vor sich sieht, so, als lebte sie noch – jede kleine Falte um ihren Mund, jede Nuance der Stimme, jeden noch so kleinen Rest des Akzentes von Krakerøy, der dann und wann hervorbrach, jede Strafpredigt, jedes Lächeln, jedes ernste Wort und jeden Blick. Und auch das straff zurückgekämmte Haar über dem marmorweißen Gesicht, als ihr der Atem ausging, ist schwer zu vergessen.
Dass nun ausgerechnet er zu so einem uralten Mann werden sollte! Wer hätte das damals gedacht? Er nicht, und auch nicht die anderen. Wäre das Schicksal gerecht gewesen, dann hätte er damals in Kristiania von Herrn Gottfried Tod geholt werden müssen – und nicht sie, seine Schwester.
Wurde Sofie in Wirklichkeit an seiner statt geholt?
Das ist ein Verdacht, von dem er sich nie so ganz befreien konnte. Im Alter von zwölf Jahren verlor er seinen Platz in der Domschule, weil er wegen seiner schwachen Lunge so häufig dem Unterricht ferngeblieben war. Zu Weihnachten, als er dreizehn und sie vierzehn war, lag er mit Fieber im Bett und starrte auf die Lichter des geschmückten Baums. Verschwitzt und unruhig wandte er sich flüsternd an seinen Vater:
»Papa?«
»Ja.«
»Was ich da ausspucke, ist so dunkel.«
»Wirklich, mein Junge?«
Sein Vater arbeitete als Truppenarzt und Armenarzt. Die biblische Denkweise nahm er ernst und brachte es oftmals nicht übers Herz, seinen Patienten Geld abzuverlangen. Im Laufe der Jahre zogen sie innerhalb der Stadt von einem Ort an den anderen, erst von der Nedre Slottsgate in die Pilestredet, dann von der Thorvald Meyers gate in den Fossveien – insgesamt acht verschiedene Wohnungen.
Sein lieber Vater mit den grauen Locken holte eine Kerze, nahm das Taschentuch, knüllte es zusammen und verbarg es vor ihm. Beim nächsten Mal spie der Dreizehnjährige aufs Laken, um nachzuprüfen, was der Vater ihn nicht sehen lassen wollte.
»Es ist Blut, Papa.«
Sein Vater strich ihm übers Haar.
»Hab keine Angst, mein Junge.«
Es verging eine Weile. Vielleicht war er für einen Augenblick eingedöst. Er erwachte, als sein Vater die Hand auf seinen Kopf legte und sagte:
»Ich will dich segnen, mein Junge.«
Inmitten des Fiebers dämmerte ihm, dass wohl auch er die Schwindsucht hatte, genau wie seine Mutter. Von jetzt an würde vielleicht nur noch ein mageres Schattenleben auf ihn warten. Wieder schlief er für ein paar Minuten ein. Doch dann war sein Vater wieder da, strich ihm übers Haar und sagte:
Der Herr segne dich.
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir.
Der Herr gebe dir Frieden.
Im Laufe des Abends wurde das Fieber schlimmer. Ein weiterer Arzt wurde herbeigerufen. Er horchte die Brust des Patienten ab und verordnete Eis, um ihn abzukühlen. Als der Junge am nächsten Morgen erwachte, spürte er, wie es jedes Mal beim Luftholen in seiner Lunge rumorte. Ein neuer Hustenanfall füllte das ganze weiße Taschentuch mit Blut, wie ein rotes Banner. Zu Tode erschrocken jammerte er:
»Jesus hilf mir, ich sterbe – ich kann doch jetzt nicht sterben.«
»Du darfst nicht so laut reden, mein Junge. Das ist nicht gut für dich«, erwiderte sein Vater.
Seine ein Jahr ältere Schwester Sofie legte sich neben ihn auf das Bett. Sie weinte und betete. Die anderen versammelten sich um das Krankenlager, ihre Gesichter waren bleich und ernst. Von der Jacobskirche ertönten die Glocken, im Nebenzimmer stand der funkelnde Weihnachtsbaum. In Lappen eingewickelte Eisklumpen lagen auf der Brust des Jungen. Er schaute seinen Vater an und verspürte eine Art Scham für das, was er sagen wollte, wagte aber nicht zu schweigen. Mit gesenktem Blick stellte er die Frage, die an ihm nagte, die banale freimütige Frage, wo er, nach Ansicht seines Vaters, landen würde, falls er diesen Winter nicht überleben sollte – ob der Vater wirklich glaubte, dass er in den Himmel käme?
»Das wirst du bestimmt, mein Junge – solange dein Glaube unerschütterlich ist. Mein lieber Sohn, glaubst du an Gottvater, Gottes Sohn und den Heiligen Geist?«
»Ja, Vater«, erwiderte er mit matter Stimme, obgleich er keineswegs wusste, ob dies die richtige Antwort war. Es gab Dinge in der Bibel, die einfach nicht stimmen konnten.
Jäh durchfuhr ihn ein Schrecken. Er sollte vor den Richtertisch des Herrn gestellt werden und wusste doch, dass Zweifler verurteilt waren, für immer und ewig in der Hölle zu brennen. Draußen auf der Straße fing ein Hund an zu heulen. In der Küche hörte er eine Frauenstimme fragen:
»Wie geht es dem Jungen?«
Die Antwort verstand er nicht. Doch dann hörte er die Frauenstimme sagen:
»Mein Sohn ist auch krank. Einen von beiden holt wohl der Tod, und deshalb heult der Hund.«
Etwas später erwachte er aus dem Halbschlaf und sah seinen Doktorpapa mit gefalteten Händen neben dem Bett knien.
»Herr, ich bitte Dich – ich fordere von Dir – lass ihn heute nicht sterben – er ist noch nicht bereit – ich bitte Dich, hab Erbarmen mit uns, lass ihn leben – er wird Dir immer dienen, das hat er mir versprochen.«
Inmitten des Fieberwahns sah der Junge, wie weiß die krampfartig gefalteten Hände des Vaters waren.
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