»Ich flehe Dich an, Herr, ich fordere es von Dir – in Namen von Jesu Christi Blut, mach ihn wieder gesund.«
Ein paar Jahre später schrieb er das alles auf, deswegen erinnert er sich so gut daran – er weiß noch jedes einzelne Wort, das an jenem Dezembertag in Grünerløkken gesagt wurde.
Aber niemand wurde an diesem Weihnachtsfest geholt. Nicht der andere Junge. Nicht er. In seiner Erinnerung ist es das Weihnachtsfest mit dem blutroten Banner. In seiner Erinnerung ist es das Weihnachtsfest, an dem er befürchtet hatte, womöglich für immer und ewig in der Hölle zu brennen – aber es ist auch der Winter, in dem er den Entschluss fasste, überleben zu wollen.
Von der Thorvald Meyers gate zogen sie in ein Mietshaus, in dem es weniger zugig sein sollte. Doch im November desselben Jahres gelang es dem teuflischen Herrn Tod dennoch, die Treppen dieses im Osten der Stadt gelegenen Hauses hinaufzuschleichen, um seine ältere Schwester zu holen.
Welche Art von Gerechtigkeit konnte hierin gelegen haben – dass seine Schwester so früh auf dem Friedhof landete, und nicht er?
Tage und Nächte rätselte er während seiner Jugend darüber. Und noch immer kann es passieren, dass er sich diese Frage stellt.
Ihre Knochen kann er vor sich sehen, dort unten im Grab.
Wie mager sie zum Schluss wurde! So stumm und scheu und fast durchsichtig dünn!
In seinen Kindertagen gab es nur zwei Menschen, denen er sich tief verbunden fühlte, die dunkelhaarige Mutter und die rothaarige ältere Schwester. Nachdem seine Mutter der rachsüchtigen Tuberkulose erlegen war, wurde sie, seine ältere Schwester, zur großen Liebe seines Lebens. Eine ganz besondere Nähe entstand zwischen ihnen.
Als seine Mutter starb, waren die anderen Geschwister noch so klein, dass sie sich kaum an sie erinnerten. Sofie und er waren diejenigen, die die Mutter wirklich gekannt hatten und Geschichten über sie erzählen konnten – wie lieb sie zu ihnen gewesen war, wie kurzatmig sie damals auf der Treppe in der Nedre Slottsgate geworden war, und wie sie in der Pilestredet alle zu sich gerufen und kurzerhand erklärt hatte, was der Arzt gesagt habe, und dass sie sich alle im Himmel wiedertreffen würden, wenn sie nur bereit wären, ein gottesfürchtiges Leben zu führen.
Er war fünf, als die Mutter fortgerissen wurde. Als seine ältere Schwester Sofie ihr nachfolgte, war er dreizehneinhalb. Sein erstes wirklich umstrittenes Bild zeigte die große Schwester mit den roten Haaren; wie sie sich, als sie fürchtete, er müsse sterben, neben ihn auf das Bett legte, stattdessen aber selbst von dem rachsüchtigen Herrn Tod mitgenommen wurde.
Mit dem Pinsel kratzte er an dem Bild von Sofie herum, ritzte Streifen in die Farbe, änderte, entfernte und übermalte – eine Weile kämpfte er mit dem Bild, als handele es sich um einen Feind, nahm alles Überflüssige weg, machte die Details undeutlicher, verstärkte das Kolorit, vereinfachte und konzentrierte den Ausdruck. Für die Arbeit benutzte er ein junges Modell mit langen roten Haaren. In gewisser Weise half ihm dieses Bild, sich mit dem Schicksal seiner Schwester abzufinden. Doch wirklich versöhnen konnte er sich niemals.
»Aufschneider!«, nannte ihn einer der bekanntesten norwegischen Künstler, mit höhnischer Fratze, als der Debütant auf der Herbstausstellung das Bild seiner schwindsüchtigen Schwester zeigte.
War es wirklich Aufschneiderei, die er da betrieb?
Trickste er? Pfuschte er?
Nein, er tat das, was ihm nötig schien, er folgte seinem eigenen Weg. Wie elend, ratlos und dumm du dich auch fühlen magst, wenn du von den anderen verhöhnt wirst; folge deinem eigenen kleinen Trampelpfad in die Wildnis der Selbständigkeit, stehe zu deinen Gefühlen und dem, was du selbst erfahren hast. Das ist der einzige Rat, den er weitergeben kann – das begriff er, nachdem er mit dem Bild seiner sterbenden Schwester die Mauer des öffentlichen Schweigens durchbrochen hatte; und diesem Pfad muss er noch immer folgen.
Jetzt geht sein Leben dem Ende zu; kein Gebet kann das verhindern. Brummend schleppt sich der von Bronchitis Geplagte zurück ins Bett, um wieder etwas Wärme in die Glieder zu bekommen.
»Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.«
Wie ein Schlag in die Magengrube trafen ihn die Worte aus dem protestantischen Begräbnisritual, als er einmal, ein paar Jahre nach seinem Umzug nach Ekely, einer Einäscherung beiwohnte. Seitdem lehnt M. es ab, an Begräbnissen teilzunehmen. Nicht einmal, als seine heißgeliebte Tante starb – die sich der mutterlosen Kinderschar angenommen hatte und all die Jahre anstatt ihrer Schwester für sie dagewesen war –, konnte er es über sich bringen, die Kapelle aufzusuchen.
Einen hübschen Kranz schickte er. Doch von der Trauerfeier hielt er sich fern und beobachtete das Ganze gut versteckt aus der Entfernung.
Nein, er konnte einfach an keinen Begräbnissen mehr teilnehmen. Sie waren ihm zu viel geworden. Er konnte die Predigten im Stil von Pastor Manders nicht ertragen und hasste es, bei den Trauernden zu sein.
Das war zu der Zeit, als er fürchtete, blind zu werden.
Das Sehvermögen des linken, schwächeren Auges war bereits zuvor immer schlechter geworden. Nach einem furchteinflößenden Zahnarztbesuch bekam er einen Bluterguss, der sich wie eine Krebsgeschwulst über die Netzhaut des anderen, guten Auges legte. Da hatte er schon das Ende vor sich gesehen. Wie, um alles in der Welt, sollte er weiterleben, wenn er nichts mehr sehen könnte?
»Verdammte Scheiße!«
Er räuspert sich und hustet Schleim.
Von jedem wichtigen Bildmotiv gibt es zwei Versionen, manchmal sogar acht, neun oder noch mehr – in verschiedenen Techniken. Es gibt ein paar malerische Schlüsselsituationen, zu denen er immer wieder, manchmal im Zeitraum von zehn Jahren, zurückkehrt.
›Marats Tod‹ ist eines dieser Themen, mit denen er nie ganz fertig geworden ist. Beim letzten Mal hat er sich hier auf Ekely daran versucht, mit einem jungen dunkelhaarigen Modell als Charlotte Corday. Doch es glückte ihm nicht recht. Die Mörderin in ›Marats Tod‹ muss rothaarig sein. Sonst scheint das Motiv ein wenig seiner expressiven Kraft einzubüßen.
Da sind die dunkelhaarigen Frauen und die rothaarigen. Es ist wie in Monte Carlo – es gibt die schwarzen Todesmarken und die roten Liebessteine. Schon damals in Südfrankreich dachte er so, während er seine Notizen machte und nach der Strategie suchte, die ihn im filzgrünen Halbdunkel der Spielhalle zum Sieger machen könnte.
Es war ihm nicht gelungen, weder in Monte Carlo noch bei den Frauen.
Er ist ein Mann der Niederlage. Seine besten Bilder handeln davon – Trauer, Tod, Eifersucht, Verzweiflung, Erniedrigung, Irrsinn und Niederlage.
Dreck!
So ist sein Leben gewesen.
Scheiße! Krankheit! Leere! Niederlage!
Allzu lange hat das Leben gedauert.
Und jetzt ist bald endlich alles vorbei.
Der Atem der Geschichte umweht Dorothys altehrwürdigen englischen Doppelnamen, aber sie ist in Norwegen zur Schule gegangen und ihre Freunde nennen sie einfach Doffy.
Sie studiert Jura und hat außerdem eine halbe Stelle in einem mausoleumähnlichen Büro in der Quadratur – und sie versucht, dort durchzuhalten, weil sie das Geld braucht. An diesem Abend trägt sie Rock, Strickjacke, Mütze, Handschuhe, alles aus Wolle, und kniehohe Stiefel. Blond und blauäugig geht sie vorbei an den winterschwarzen Bäumen des Dronningpark und schaut sich aufmerksam nach allen Seiten um.
Es wird dunkel. Sie will in ein Konzert.
Dorothys Zimmergenossin Kari besucht an diesem Tag ihre Mutter in Homansbyen zu einem Versöhnungsessen. Doffy und Kari wollen sich danach beim U-Bahn-Eingang Nationaltheater treffen, eine halbe Stunde vor Konzertbeginn. Das bedeutet, dass Doffy noch ein wenig Zeit totschlagen muss – nachdem sie die beiden Eintrittskarten abgeholt hat.
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