Wenige Tage später nahm die Brigade an einer Großoffensive teil, die typisch sein sollte für viele von Witzlebens Kriegserlebnissen. Mit 10 Armeekorps (AKs) wurde auf breiter Front am 10. November 1914 mit großer Zuversicht angegriffen. Der Angriff blieb jedoch schnell stecken. Er konnte über die gut gesicherten, verdrahteten und stark verteidigten Stellungen des Feindes nicht erfolgreich geführt werden. Vielmehr gab es auf deutscher Seite massive Verluste, und ganze Bataillone wurden vernichtet. Regimenter, die mit einer Stärke von 2700 Mann angetreten waren, hatten nach dem Kampf nur noch Stärken von knapp 1600. 171Witzleben musste den Tod von weiteren Kameraden bei diesem Angriff hinnehmen und zeigte sich »tief erschüttert, gerade diese [...] beiden lieben Freunde verloren zu haben« 172. Aufgrund der starken gegnerischen Sicherung und der hohen Verluste wurde der Angriff zunächst eingestellt. Eine große Anzahl Verwundeter konnte aus der Frontlinie nur geborgen werden, indem man flache Gräben zu ihnen vortrieb. Die medizinische Versorgung war nach Witzlebens Beobachtung nicht ausreichend, erst am Hauptverbandsplatz – weit hinter der Front – war sie besser. 173Und nachdem der erste Schnee gefallen war, resümierte der Frontoffizier besorgt: »Wenn wir doch nur unsere kolossalen Opfer nicht umsonst gebracht haben.« 174Nur wenige Tage später gestand er sich selber ein, kriegsmüde zu werden. 175Die Brigade wurde schließlich wieder aus der Front gezogen und in Bouligny, östlich von Verdun, untergebracht. 176
Immer wieder nutzte der preußische Offizier die Möglichkeit, in Ruhepausen das Hinterland kennenzulernen. So besichtigte er Ende November eine französische Erzgrube und fühlte sich »im Innern Frankreichs« 177. Die Führung übernahm ein jüdischer Ingenieur namens Frank. Ein paar Tage später zeigte der Ingenieur ein Verhalten, das Witzleben missbilligte. Witzleben erzürnte es, dass sich Frank, der im Kameradenkreis nicht gut gelitten war, ungefragt zu seiner Gruppe gesellte, und schrieb über ihn in seinem privaten Kriegstagebuch: »Ein ekliger, aufdringlicher Judenbengel.« 178Frank seinerseits beschwerte sich bei Witzleben über das unfreundliche Verhalten der Kameraden und schikanierte Witzlebens Gruppe. Aber am Ende »raufte« man sich doch zusammen: Frank nahm an der Weihnachtsfeier der Gruppe teil und wurde von ihr aufgenommen. 179Anfang Januar 1915 schenkte er Witzleben sogar einige Ansichtskarten für sein Fotoalbum. 180Ob Frank aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum unbeliebt war oder ob er einfach nur nicht in die Gruppe passte, bleibt spekulativ. Die scheinbar vorhandenen Vorurteile gegen Juden können hier gegebenenfalls verstärkend gewirkt haben. Sollte dies so sein, haben sie aber nicht dazu geführt, dass Frank vollständig ausgeschlossen wurde. Eine unreflektierte, von anderen kopierte, antisemitische Rhetorik war zu dieser Zeit üblich und machte auch vor Witzleben nicht halt. 181Manches ist hierbei nicht hinterfragt, sondern einfach tradiert worden. Witzleben scheint hier, in seinen frühen Jahren, zu dem zur damaligen Zeit verbreiteten »Oberschichten-Antisemitismus« 182geneigt zu haben, eine Einstellung, die er später gänzlich ablegte.
Das Jahresende im Krieg sollte der schlesische Hauptmann 1914 wie all die anderen Kriegsjahre danach in Gedanken an seine Familie begehen und mit dem Dank gegen Gott schließen, dass er ihn bisher behütet durch den Krieg getragen habe. 183Am Neujahrstag 1915 wurde auf den Frieden getrunken, den er bald erhoffte. 184
Die zum Teil sehr heftigen Kämpfe, die Witzleben im Laufe des Weltkrieges erlebte, versuchte er wie andere Kameraden psychisch zu verarbeiten. Neben der bereits erwähnten Jagd und dem Schreiben von Briefen und Tagebuch waren es vor allem die Gespräche mit Kameraden, die ihm dabei halfen. Die Gespräche wurden meist abgerundet durch Kartenspiel und – wann immer möglich – durch den Genuss von alkoholischen Getränken, je nachdem, was gerade verfügbar war. 185Hinzu kam seine Fähigkeit, auch kleinere und größere Freuden genießen zu können, wie etwa als er sich einen Hund zulegte. 186
Ein weiterer Eckpfeiler war Witzlebens christlicher Glaube, in dem er Halt fand. Zum einen gab es zahlreiche Gespräche mit den Militärpfarrern, die Witzleben wohltaten und ihn aufbauten, zum anderen setzte er sich theologisch mit Bibeltexten aus den Predigten auseinander. 187
Zudem holte sich Witzleben Kraft aus zahlreichen Briefen aus der Heimat, vor allem von seiner Frau. Wenn die Feldpost zu lange auf sich warten ließ, dann war er ebenso niedergeschlagen wie seine Kameraden. Hingegen stimmte ihn jeder Brief, jedes Zeichen von ihr fröhlich. 188Ganz besonders freute er sich über ein kleines Medaillon mit den Bildern seiner Familie, das ihm seine Schwiegermutter zu seinem ersten Kriegsgeburtstag am 4. Dezember 1914 geschenkt hatte. Dieses trug er fortan immer bei sich. Am Abend dieses Geburtstages saß er vor dem Bild und dachte mit starken Gefühlen an Frau und Kinder und konstatierte die Bedeutung des Momentes: »Das kann nur der ermessen der selbst in Gefahr und Krieg plötzlich die lebenswahren Gesichter vor sich sieht.« 189
Witzleben hat es den gesamten Krieg über abgelehnt, seine Frau in das rückwärtige Frontgebiet kommen zu lassen, was ihm von seinen Vorgesetzten immer wieder angeboten wurde. Zu groß fand er den Aufwand für sie, vor allem aber war ihm der Abschied von ihr direkt an der Front gefühlsmäßig nicht geheuer. 190
Im zweiten Kriegsjahr – 1915
Anfang Februar erkrankte Witzleben an Influenza, er sollte sich aber bald wieder erholen. Mittlerweile hatte er sich auch gegen die Gefahren aus Gasangriffen impfen lassen, doch litt er an den starken Nebenwirkungen. 191Am 14. Februar übernahm er schließlich ein eigenes Frontkommando. Er wurde Führer der 2. Kompanie des Reserve-Infanterie-Regimentes (IR) Nr. 6. Diese von ihm gewünschte Verwendung – zum ersten Mal verantwortlich für die Führung einer Kompanie – füllte ihn ganz aus. So verschmolz er schnell mit seinen Männern zur kameradschaftlichen Kampfgemeinschaft, die manche Bewährungsprobe zu bestehen hatte. 192Witzleben hatte ein enges, ganz natürliches und herzliches Verhältnis zu seinen Männern, die er in seinem Tagebuch oft einfach nur seine »Kerls« nannte. 193
Mit seiner Kompanie erlebte er den Krieg nunmehr in seiner ganzen Unerbittlichkeit. Seine Gefechtsstände staken oft in einem Erdloch, wo Regen, Kälte und Schlamm seine Begleiter waren: »von unten durchnäßt und von oben durchfroren«. 194Am 1. März resümierte er: »Sieben Monate Krieg!« und fragte: »Wie lange noch?« 195Diese Frage sollte er in Zukunft immer wieder in seinem Tagebuch stellen, zum Ende des Krieges hin in jedem Monat.
Witzlebens Kompanie, der die Brigade mittlerweile ihren Zug Feldartillerie unterstellt hatte, lag am Vauxbach, in der Nähe des später berühmt gewordenen Forts Vaux bei Verdun. Hier sollte Witzleben zum ersten Mal einem Befehl widersprechen. Er hatte den Auftrag, zwei Doppelposten über den Bach vorzuschieben. Nach Prüfung der Lage vor Ort – der Bach war an der vorgesehenen Stelle sehr tief und breit und von Feindesseite einsehbar – war für den Kompanieführer jedoch klar, dass es sich um ein Himmelfahrtskommando handelte, das er nicht verantworten wollte.
Die Bataillonsführung schloss sich Witzlebens Einschätzung an, doch die Regiments- und Divisionsführung kritisierte diese Ansicht scharf. Witzleben musste eine schriftliche Begründung seiner Auffassung anfertigen. Die übergeordnete Führung bestand jedoch schließlich auf ihrem Befehl, den Witzleben dann auch ausführte. Umso erleichterter war er, als das Unternehmen ohne Verluste zu Ende gebracht werden konnte. Er blieb aber nach wie vor davon überzeugt, dass der Befehl falsch war. 196
Am 22. März übernahm er die 14. Kompanie des Regimentes – wieder als Kompanieführer 197–, in der ihm zunächst 197, später 287 Mann unterstanden. Sie kamen aus Norddeutschland und wuchsen ihm schnell ans Herz. 198Zunächst musste er intensiv Ausbildung betreiben und war verantwortlich für manchen Stellungsbau. 199Die Kompanie lag an der Front zur Belagerung von Verdun immer wieder ganz vorne. 200
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