1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Die familiäre Anbindung, die er während des Generalstabskurses genossen hatte, erlebte er häufig im Krieg. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, wie selbstverständlich es für ihn war, immer wieder auf Cousins zu stoßen und sich mit ihnen familiär verbunden zu fühlen. 242
Fünftes Kriegsjahr – 1918
Am 13. Januar 1918 wechselte Witzleben zum Generalkommando des XI. Armeekorps. Man ernannte ihn zum Vierten Generalstabsoffizier und zeichnete ihn vier Tage später mit dem Königlich Bayerischen Militär-Verdienstorden 4. Klasse mit Schwertern aus. 243
Ende Januar besuchte er einen dreitägigen Lehrgang auf der Artillerieschule Mouzon. 244In dieser Zeit erlebte er die »große Schlacht in Frankreich« 245, den letzten Versuch der Obersten Heeresleitung, dem Kriegsverlauf noch einmal eine entscheidende Wendung zu geben. Witzleben konnte in der Tat mehrere Kilometer Geländegewinne konstatieren. Er war hocherfreut, Manfred Freiherr von Richthofen – »den Roten Baron« – mit seinem Geschwader in seinem Bereich zu haben. 246Dieser informierte sich telefonisch über die Lage. Als Richthofen ausfiel, musste Witzleben mit Bedauern feststellen, dass dieser nicht zu ersetzen war. 247
Dem Verhalten der Briten zollte er Respekt, denn sie würden tapfer kämpfen. Ihre Pionierleistungen, speziell die Wiederherstellung zerstörter Straßen, seien sehr gut – ganz im Gegensatz zu den deutschen. 248Zu dieser Zeit tauchten auf der gegnerischen Seite immer wieder neue, frische Truppen auf. Jetzt konnten die Deutschen nicht mehr mithalten. Aus Witzlebens Sicht ignorierte das Armeeoberkommando (AOK) diese Entwicklung. Es versuchte, die Verantwortung für Misserfolge auf die ihm unterstellten Truppenführungen abzuwälzen. Witzleben war mit der übergeordneten Führung generell nicht mehr zufrieden: »Ueberhaupt hat man leider den Eindruck, daß dieses Oberkommando [der Armee; Anm. des Verf.] diesen Zeiten nicht gewachsen ist.« 249Gar nicht einverstanden war er mit dem Abschieben der Verantwortung, sie würden »hoffentlich damit nicht durchdringen« 250, meinte er. Jedoch wurde wenige Tage später der Chef des Generalstabes von Witzlebens übergeordnetem XI. Armeekorps mit der Begründung abgelöst, dieser sei gegenüber der Truppe nicht hart genug gewesen. Witzleben war entsetzt und konstatierte:
»Ein Vorwurf, der ihm aber nur zur Ehre gereicht, da er den Leuten oben ungeschminkt die Wahrheit gesagt hatte. Es ist nur traurig, dass so ehrliche und tüchtige Leute so unsauberen Einflüssen weichen müssen.« 251
Diese Erlebnisse halfen ihm, eigenständig zu urteilen. Er erkannte nach und nach, dass es notwendig war, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und das Gewissen zu befragen, wenn Zweifel aufkamen, ob die Entscheidungen der übergeordneten Führung richtig waren.
Am 21. April 1918 erhielt Witzleben schließlich die Erlaubnis zum Tragen der Uniform des Generalstabes der Armee, was ihn sehr freute. Er war damit Angehöriger des traditionsreichen preußischen Generalstabes geworden. 252
Hauptmann i.G. Erwin von Witzleben erhielt am 13. Mai das Verwundetenabzeichen in Schwarz. 253Obwohl noch Vierter Generalstabsoffizier (Id), übernahm Witzleben mehr und mehr Aufgaben des Zweiten Generalstabsoffiziers (Ib). Die entsprechende Abteilung leitete er seit dem 26. Mai 1918. Wenige Wochen später stürzte er mit seinem Pferd Hektor so stark, dass ihm infolgedessen eine Dienstbeschädigung anerkannt werden musste. 254Witzleben hatte sich Rippen gebrochen und gequetscht, aber immerhin konnte er für einige Tage nach Hause fahren. 255Kurz darauf wurde er per Telegramm zurückbeordert. Man brauchte den Generalstabsoffizier bei den Schlachten im Westen. 256Am 2. August wurde er Erster Generalstabsoffizier (Ia) der 108. Jäger-Division, 257Cousin Ernst von Witzleben sein Id. 258Als Ia führte Witzleben zusammen mit dem Kommandeur sogleich die Division erfolgreich in der Schlacht an der Somme. Er muss sich dabei so bewährt haben, dass ihn der Kommandierende General des übergeordneten Armeekorps zum Pour le Mérite – dem höchsten preußischen Tapferkeitsorden – eingab. 259
In diesem Herbst lernte Witzleben den Chef des Generalstabes der Heeresgruppe (HGr.) »Deutscher Kronprinz«, Generalmajor Friedrich Graf von der Schulenburg kennen, mit dem er sich gut verstand. Und er traf zum ersten Mal mit Major i.G. Werner Freiherr von Fritsch zusammen. 260Schulenburgs Sohn, Fritz-Dietlof, sollte Jahre später ebenso wie Fritsch noch eine Rolle in Witzlebens Leben spielen.
Am 18. September wurde Witzleben mit Wirkung zum 14. September zu den Offizieren von der Armee versetzt und der 9. Infanteriedivision zur besonderen Verwendung überwiesen. 261Damit war seine Zukunft für den Moment unklar, was ihn sehr frustrierte. 262Indes erfüllte er weiterhin seine Pflicht und erhielt am 15. Oktober das Fürstlich Reußische Ehrenkreuz III. Klasse mit Krone und Schwertern. 263Zwei Tage später wurde seinem früheren Divisionskommandeur der Orden Pour le Mérite verliehen. Auch für Witzlebens Arbeit war das eine Anerkennung. 264
Ende Oktober konnte er schließlich wieder für kurze Zeit nach Hause fahren. Während er noch im Fronturlaub weilte, begannen am 7. November die Waffenstillstandsverhandlungen. Reichskanzler Prinz Max von Baden – in Sorge um erdrutschartige Umwälzungen – verkündete ohne Rücksprache mit dem Kaiser dessen Thronverzicht. Damit erfüllte er eine der Grundbedingungen für einen Waffenstillstand. Kaiser Wilhelm II. floh in die Niederlande. Am 11. November 1918 schwiegen die Waffen. 265
An die Front zurückgekehrt, hatte Witzleben die Aufgabe, als Ia einen geordneten Rückzug der 121. Infanterie-Division in die Heimat zu organisieren. 266Hierbei erlebte er manche ungeahnte Herausforderung. Immer wieder rissen die Verbindungen zu Nachbarverbänden oder vor allem zu übergeordneten Stellen ab, sodass der Ia selbständig entscheiden musste. 267Und die Soldaten der Division drängten schneller als geplant – und damit ungeordneter – nach Hause. Witzleben zeigte sich angesichts des Verhaltens so manch älterer Kameraden kritisch:
»Ich finde es ja nicht [...] recht, daß die älteren Herren alle weggehen, denn was soll man mit den jungen Herren anfangen wenn die alten Offiziere nicht durchhalten.« 268
Bei aller Enttäuschung schaffte er es aber auch, Schönes zu genießen, sei es die Landschaft oder den herzlichen Empfang beim Landrat in Malmedy. 269Seine Grundstimmung war aber bitter: »So ein verlorener Krieg ist etwas Schreckliches« 270.
Die deutsche Niederlage war jedoch für ihn eindeutig. Auch wenn er in seinem Tagebuch den Aufruf des von ihm verehrten Chefs der Obersten Heeresleitung, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, unkommentiert wiedergab, in dem dieser die Legende von der im Felde unbesiegten Armee hervorhob 271, wusste Witzleben um die reale Situation. Er hatte in den letzten Kriegsmonaten ausreichend Einblicke in die übergeordnete Kriegsführung erhalten, um die militärische Niederlage beurteilen zu können. 272Die massive Überlegenheit der Alliierten an der westlichen Front war für ihn eindeutig. 273
Schließlich kehrte Witzleben am 5. Januar 1919 nach Liegnitz zurück. 274Ruhe und Neuanfang waren ihm aber noch nicht vergönnt. Am 18. Januar 1919 begannen in Versailles die Friedensverhandlungen. Deutschland war von ihnen ausgeschlossen. Während die Siegermächte über die Neuordnung Europas und die Konsequenzen aus dem Weltkrieg rangen, durchlebte Witzleben einige unruhige Monate zwischen alter königlich/kaiserlicher Armee und neuer Reichswehr.
Witzleben hatte schon auf dem Rückmarsch einige Erfahrungen mit der Revolution und besonders den Soldatenräten gesammelt. Als er am 9. November 1918 von Schlesien an die Front zurückfuhr, waren die Unruhen in Berlin so stark, dass er nach Leipzig ausweichen musste. Auf der Fahrt und auch in den nächsten Tagen erlebte der Generalstabsoffizier einen starken Verlust an Disziplin und Respekt, der auf ihn abschreckend und deprimierend wirkte. 275Seine alte Welt schien im Begriff zu sein unterzugehen.
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