Witzleben war bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens unselbständig und umso dankbarer für die Unterstützung seiner Burschen. 140Den ganzen Krieg über und noch darüber hinaus sollte er von seinem Burschen Paul Beier, der elf Jahre jünger war als Witzleben, begleitet werden. 141Beier war oft bei seinem Vorgesetzten zu Hause und spielte mit den Kindern, die ihn sehr ins Herz geschlossen hatten. Zwischen Witzleben und seinem Burschen entwickelte sich eine Freundschaft, die auch lange nach ihrer gemeinsamen Dienstzeit andauern sollte. Noch Jahrzehnte später besuchte Beier seinen alten Vorgesetzten in Berlin, und es kam sogar vor, dass die beiden zusammen durch den Zoologischen Garten spazierten. 142
Am 20. August 1914 überschritt Witzlebens Brigade gegen zwei Uhr mittags die luxemburgische Grenze. Er war angetan von dem freundlichen Verhalten der Bevölkerung gegenüber den deutschen Truppen. 143Zwei Tage später geriet Witzleben in seine ersten Kämpfe: die Schlacht bei Longwy und dabei zuerst das Gefecht bei Fillières. 144Noch war es sein Wunsch, möglichst schnell an den Feind zu kommen. Ein Armeebefehl des Deutschen Kronprinzen, in dem dieser erklärte, »uns heute zum ersten Male an den Feind« 145zu führen, motivierte den Brigadeadjutanten. Eine uneingeschränkte Siegeszuversicht beherrschte den Liegnitzer Offizier so wie die ganze Armee. Man wollte beim Sieg dabei sein und seinen Beitrag dazu leisten. In dieser ersten Phase hatte Witzleben ein positives Kriegsbild, das sich aber im Laufe des Krieges wandelte.
Als er kurz hinter der Front die ersten verwundeten deutschen Soldaten sah, wurde ihm nach eigenen Angaben doch »sehr mulmig« 146. Danach stand er zum ersten Mal auf dem Schlachtfeld und erlebte, wie ihm die Geschosse regelrecht »um die Ohren flogen«. Er lernte das Gefecht der verbundenen Waffen kennen, bei dem zunächst die eigene Artillerie dem Gegner möglichst großen Schaden zufügt, um ein schnelles und erfolgreiches Vorgehen der eigenen Infanterie zu ermöglichen. Witzleben sah die ersten gefallenen Franzosen:
»Ein eigentümliches Gefühl, beschlich einen doch ich kann aber nicht sagen, daß ich ein eigentliches Grauen empfunden habe. Immerhin die schrecklichen Verwundungen und Stellungen waren erschütternd.« 147
Schnellen Geländegewinnen der eigenen Truppen folgten bald zügige Gegenangriffe, sodass es letztlich keinen echten Erfolg gab. Witzleben machte nun die ersten Erfahrungen mit den französischen Schrapnells 148, die ihn in den nächsten Jahre dauernd verfolgen sollten. An seine Feuertaufe erinnerte er sich später immer wieder. 149Bei diesem Gefecht wie auch bei vielen weiteren war er dem Tode oft sehr nahe. Nicht selten verfehlte ihn ein Geschoss nur um Haaresbreite. Am Abend war das Gefecht beendet und Witzleben musste in der Nähe von vielen toten Franzosen kampieren. In dieser Lage und aufgrund der hohen Verluste – »leider auch unserer braven Jungen« 150– verbrachten er und seine Kameraden dort »die furchtbarste Nacht unseres Lebens« 151. Zwei Tage später ertappte er deutsche Sanitäter auf frischer Tat bei dem Versuch, ein Haus zu plündern. In seinem Kriegstagebuch beschreibt er, wie er sie mit seiner Reitpeitsche aus dem Haus vertrieb, während er ihnen die Vorschriften zum Plünderungsverbot hinterherrief. 152
Diese Erlebnisse bewegten ihn, vor allem der Soldatentod eines Freundes ging ihm sehr nahe. 153
Ende August 1914 litt Witzleben zum ersten Mal an starken Magenbeschwerden; es quälten ihn lang anhaltende Krämpfe und tagelange Blockaden – ein gesundheitliches Problem, das ihn nunmehr sein Leben lang begleiten würde. 154Auch Herzprobleme traten im Laufe des Krieges auf, sollten aber später wieder abklingen. 155Außerhalb der militärischen Lage war für Witzleben – ganz typisch für einen Frontsoldaten – die tägliche Versorgung ein Schwerpunkt im Alltag. Die Qualität der Verpflegung und der Unterbringung sowie ausreichend Schlaf gehörten für ihn zu den entscheidenden Fragen seines Überlebens als Soldat. Die Herausforderung, vor allem diesen drei Bedürfnissen möglichst häufig und ausreichend nachzukommen, zieht sich wie ein roter Faden durch Witzlebens privates Kriegstagebuch. Sonst nutzte der Oberleutnant jede freie Minute, um auf die Jagd zu gehen. Fast immer jagte er mit Kameraden; Mahlzeiten wurden mit ihnen aus dem eigenen oder aus anderen Truppenteilen eingenommen. Witzleben fand in seiner Freizeit neben der Jagd auch die Zeit auszureiten und auch immer freie Minuten, zum Briefeschreiben und für sein Tagebuch. 156
Viele praktische Fragen um die Führung und die Organisation der zu seinem Verantwortungsbereich gehörenden Truppen beschäftigten den Offizier. Er erlebte den Krieg als eine vielschichtige, mehrdimensionale Erfahrung: »Ernst und Scherz, Leid und Freud’ sind oft eng beieinander gewesen« 157, reflektierte er rückblickend. So war auch manch Kurioses Teil seiner Kriegserlebnisse. Beispielsweise kam es im sogenannten Sitzkrieg vor, dass sich Deutsche und Franzosen in den Schützengräben nur auf wenige Meter gegenüberlagen. Wollte nun einer austreten, galt die stillschweigende Vereinbarung, den Spaten zu heben und bei entsprechender Erwiderung der Gegenseite konnte der Betreffende den Schützengraben verlassen, ohne dass auf ihn geschossen wurde. 158
Als Adjutant der 19. Reserve-Infanterie-Brigade lernte Witzleben im September 1914 viele Seiten Frankreichs kennen. Er kam mit der Zivilbevölkerung in Berührung und fand zum Beispiel bei Einquartierungen sehr herzliche Aufnahme. Auch besuchten einheimische Katholiken den deutschen evangelischen Militärgottesdienst. Witzleben erlebte, dass ihm immer wieder Franzosen offen und herzlich begegneten, was er anerkennend und dankbar feststellte. Auch hatte er Gelegenheit, bei der Befragung französischer Kriegsgefangener die Mentalität von Franzosen näher kennenzulernen. 159
Am 14. September 1914 – nach fünf Wochen Krieg – wurde Witzleben mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet. 160Dieser rund 100 Jahre zuvor erstmalig gestiftete Tapferkeitsorden bedeutete ihm sehr viel. Er fühlte sich verbunden mit seinen Vorfahren und als lebendiger Teil einer alten Tradition. 161Noch hoffte der frischdekorierte Offizier in den Ruhepausen, schnell wieder an den Feind zu kommen, und war ganz begeistert vom »tiefe[n] Baß unserer Mörser« 162. Aber das Grauen des Krieges erlebte er auch immer wieder und hautnah. Ein toter Soldat, den er im Zustand mehrwöchiger Verwesung am 7. Oktober 1914 auffand, schockierte ihn: »Alle bisher gesehenen fürchterlichen Sachen waren nichts gegen diesen Anblick.« 163
Mittlerweile hatte Witzleben ungeduldig darauf gewartet, zum Hauptmann befördert zu werden – am 13. Oktober 1914 war es endlich soweit. 164Überglücklich feierte er mit seinen Kameraden bis in den nächsten Morgen. 165
Nach den anfänglichen deutschen Erfolgen musste der frischbeförderte Offizier konstatieren, dass Deutschland keinesfalls auf einen Materialkrieg modernen Ausmaßes vorbereitet war: ein deutlicher Mangel an Munition machte sich an der Front bemerkbar. 166Auch erlebte er schon früh, dass die deutschen Armeen nicht nur aus Millionen kampffähiger Soldaten bestanden, sondern sah »eine Unzahl marschkranker Reservisten« 167. Noch aber nahm Witzleben dies hin und kommentierte es nicht. Sein Vertrauen in die militärische Führung – »unser[en] Moltke [der Generalstabschef; Anm. des Verf.]« 168– war noch ungetrübt. Trotzdem machte sich Witzleben Ende Oktober erstmals Sorgen, dass der erhoffte schnelle Sieg nicht zu erringen sei, und richtete sich darauf ein, noch bis Weihnachten an der Front zu bleiben. 169
Anfang November wurde Witzlebens Brigade aus der Front gelöst. Der Brigadeadjutant befürchtete, dass sein Verband nach Russland verlegt würde, sie wurde jedoch in den belgischen Ort Iseghem verbracht. 170
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