Neben diesem Elitebewusstsein fehlte es nicht an Lebensfreude, die sich in einem humorvollen Familienspruch widerspiegelt: »Gott und dem König ergeben – Nur Gutes im Leben erstreben – Ab und zu mal einen heben – Das ist der Witz vom Leben.« 23
Zahlreiche Güter waren einst in Witzleben’schem Besitz. Neben den bereits erwähnten Burgen waren dies unter anderem Angelroda (1363 bis ins 16. Jahrhundert, wieder 1651–1946), Berka, Bösleben, Molschleben (1351–1737) und außerhalb Thüringens unter anderem Hude in Oldenburg (seit 1678) und Liszkowo/Witzleben in Posen (Mitte 19. Jahrhundert bis 1945). 24
Am 9. Mai 1869 kamen 21 männliche Angehörige der Familie von Witzleben in Berlin zum ersten Familientag und zur Gründung eines Familienverbandes zusammen. Auch Witzlebens Vater war dabei. 25Die Gründung wurde am vierten Familientag am 27. April 1874 formal abgeschlossen. Seit 1869 finden alle zwei Jahre Witzleben’sche Familientage statt, zu denen die Angehörigen der Familie eingeladen sind. 26Teil des Familientagrituals war zu Zeiten der Monarchie und noch bis in die 1930er Jahre auch die Verehrung und Huldigung des Kaisers. 27
Durch Luthers Reformation kam es zur Schließung zahlreicher Klöster in Kursachsen. Die damaligen Vögte des Klosters Roßleben waren die auf dem Wendelstein ansässigen Witzlebens. 28Für den Vogt, Ritter Heinrich von Witzleben, stellte sich die Frage, wie er Gebäude und Gut des Klosters weiter nutzen könne. In Anlehnung an die Errichtung von Knabenschulen durch seinen Landesherrn, den sächsischen Kurfürsten, entschloss sich Heinrich von Witzleben, in Roßleben eine Internatsschule einzurichten. So gründete er 1554 die Klosterschule Roßleben mit dem Ziel, Schülern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, möglichst unabhängig von deren sozialer Herkunft. Finanziert wurde die Schule durch das dazugehörende Klostergut sowie durch die von den Eltern zu zahlenden Schulgelder.
Roßleben war zunächst eine regional anerkannte Bildungseinrichtung, die im Laufe der Zeit immer mehr auch überregional an Bedeutung gewann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie eine der bedeutendsten Bildungseinrichtungen in Preußen. Zu ihren Absolventen zählten zahlreiche hohe Beamte, Minister und Generäle, später auch Unternehmer. Die Schule wird seit dem 19. Jahrhundert in Form einer Familienstiftung geführt und ist heute die älteste familiengeführte Schule Deutschlands. 29
Die Witzleben’sche Familie hat sich – unabhängig von der jeweiligen Abstammung bestimmter Linien – mit ihrer Schule in den letzten Jahrhunderten stark identifiziert. Die Witzlebens schickten spätestens seit dem beginnenden 18. Jahrhundert häufig auch ihre eigenen Söhne auf die Klosterschule. 30Erbadministrator Heinrich Graf von Witzleben-Altdöbern führte Anfang des 20. Jahrhunderts die Befreiung vom Schulgeld für Angehörige der Familie ein. 31Erwin von Witzleben ist in Roßleben nicht zur Schule gegangen, aber zahlreiche Onkel, Cousins sowie sein Sohn Job Wilhelm. 32
Roßleben sollte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch eine Rolle spielen. So war die Traditionsschule der Entstehungsort für viele Freundschaften, die später zu Keimzellen der Netzwerke des Widerstands werden sollten; 33keine andere zivile Bildungseinrichtung in Deutschland brachte mehr Widerstandskämpfer gegen Hitler hervor als Roßleben. 34Auch zwei spätere Mitarbeiter von Witzleben waren frühere Klosterschüler. 35Manche lernten sich dort schon kennen, andere erst nach der Schulzeit, einige gingen auch mit Witzlebens Sohn Job Wilhelm in Roßleben zur Schule. In Roßleben gewesen zu sein schuf seit jeher eine Bindung, und der gemeinsame »Stallgeruch« erleichterte das gegenseitige Vertrauen. Traf man auf einen »Alten Roßleber«, so entstand unwillkürlich eine gewisse Nähe, hatte man doch gemeinsame Werte und teilte viele Erlebnisse. Noch heute sprechen ehemalige Klosterschüler von ihrer »Alma Mater Rhodoscia« 36.
Jugendzeit und Kadettenausbildung
Nach drei Kriegen und jahrzehntelangem Ringen wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das Deutsche Reich proklamiert. Fast elf Jahre später, am 4. Dezember 1881, wurde in Breslau, der Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien, Job Wilhelm Georg Erdmann Erwin von Witzleben geboren. 37
Erwin von Witzlebens Vater, Georg von Witzleben, war zuletzt Platzmajor im kleinen schlesischen Städtchen Glogau. 38Er war im Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden und hatte die Armee 1874 als Hauptmann verlassen. 39Nach seiner Dienstzeit kaufte er 1876 ein Gut in Schlesien, das er aber schon im selben Jahr wieder veräußerte. 40Später erwarb er das kleine Gut Ober-Poppschütz (Landkreis Freystadt) in Oberschlesien. 41Erwin von Witzlebens Mutter, Therese Brandenburg, stammte aus einer schlesischen Kaufmannsfamilie. Witzleben hatte einen Bruder, der kurz nach der Geburt starb. 42Er selbst wurde am 6. Februar 1882 getauft. 43In seinem evangelischen Elternhaus wuchs er ganz selbstverständlich im christlichen Glauben auf 44, die ersten Jahre wohl zunächst in Breslau und dann in Ober-Poppschütz. 45Witzlebens gesellschaftliche und mehr noch seine menschliche Prägung hatte naturgemäß ihre Grundlage in seinem Elternhaus. Die finanzielle Ausstattung der Familie war bescheiden; das vom Vater bewirtschaftete Gut ergab nur wenig oder gar keine Erträge und wurde spätestens nach dessen Tod veräußert. Geld für eine gute Ausbildung des Sohnes war nicht vorhanden. 46
Bei der Frage, welchen Beruf der junge Erwin ergreifen sollte, kam der Familie ein Umstand zur Hilfe. Es gab die Möglichkeit – vor allem für adelige Familien, die dem preußischen Staat schon länger als Offiziere dienten –, Knaben im Rahmen einer vormilitärischen Ausbildung auf den Soldatenberuf vorbereiten zu lassen. 47Im Kadettenkorps der preußischen Armee war die Ausbildung abhängig vom Einkommen der Eltern und wurde im Bedarfsfall vollständig vom preußischen König übernommen, ab 1871 durch die sogenannte »Kaiserzulage« 48. Deshalb nannte man die jungen Kadetten auch »Kaisers Söhne«. 49
Die Kadettenausbildung war so organisiert, dass es in den preußischen Provinzen acht Vorkorps gab 50, in denen die Erziehung der jüngsten Kadetten entsprechend den Schulklassen Sexta (5. Klasse) bis Untertertia (8. Klasse) begann. Von der Obertertia (9. Klasse) an wurden sie in der Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde bei Berlin zusammengezogen. Die dortige Ausbildung enthielt alle Lehrabschnitte, die notwendig waren, um Offizier zu werden. Neben Fächern wie Taktik, Reiten, Schießen, Schwimmen und militärischer Führung sollte auch die Allgemeinbildung und der gesellschaftliche Umgang geschult werden, außerdem wurde Englisch und Französisch unterrichtet. 51Der Sohn sollte dem Vater in der Berufswahl folgen. Mit Eintritt in das Kadettenkorps in seinem 11. Lebensjahr waren die Versorgung und die berufliche Zukunft des Jungen gesichert. 52Aber nicht nur die finanziellen Verhältnisse der Familie spielten bei diesem Schritt eine Rolle: Immerhin galt die Ausbildung im preußischen Kadettenkorps auch als gute Grundlage für eine spätere militärische Karriere. 53
Witzleben setzte damit auch eine lange familiäre Tradition fort. 54Sein Ururgroßvater Albrecht von Witzleben 55, noch im Stammland Thüringen geboren, trat in preußische Dienste und nahm als Offizier an allen Schlachten Friedrichs des Großen teil, was dieser bei seinem Abschied dankbar feststellte. Nach den Worten des Königs war Albrecht von Witzleben ein mutiger und tapferer Offizier. 56Dessen zweiter Sohn und Erbe 57, Witzlebens Urgroßvater Job Wilhelm von Witzleben, von 1766 bis 1771 Schüler der Klosterschule Roßleben, folgte dem Vater in den preußischen Dienst. 58Er kämpfte gegen Napoleon I., erlebte die bitteren Niederlagen gegen die Franzosen und 1807 die französische Gefangenschaft. Schließlich kämpfte er in den Befreiungskriegen und wurde 1817 als preußischer Oberstleutnant verabschiedet. 59Witzlebens Großvater, Heinrich von Witzleben, diente über dreißig Jahre im herausragenden preußischen Garderegiment »Gardes du Corps« 60und brachte es anschließend zum Oberst und Kommandeur des 1. Garde-Ulanen-Regimentes in Potsdam. 61Er hatte die Tochter eines preußischen Spitzendiplomaten geheiratet und war Ritter des Johanniterordens. 62Witzlebens Vater war, wie bereits erwähnt, preußischer Hauptmann. 63
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