Im Sommer 1915 erhielt er endlich nach einem Jahr Frontdienst für wenige Wochen Urlaub, was ihn unvorstellbar freute, denn ein Jahr lang hatte er seine Familie nicht gesehen. Zu Hause sammelte er Kraft und genoss diese Oase außerhalb des Krieges. 201Das tat ihm auch deshalb gut, weil ihn – an der Front weit weg von der Familie – die Spannungen zwischen seiner Frau und seiner Mutter zusätzlich belasteten. 202
Am 11. August war er zurück an der Front und damit auch wieder inmitten von andauerndem Artilleriebeschuss. 203Den Franzosen bescheinigte er in diesem Herbst, dass sie ihre Verwundeten »wie immer meisterhaft abtransportiert« 204hätten. So ging das Jahr in den Schützengräben an der Front zu Ende. Inmitten der Gräben, die mit einem großen Christbaum geschmückt waren, hielt der Kompanieführer eine Weihnachtsansprache an seine Männer. Die Waffen schwiegen an diesem Heiligen Abend. 205
Im Ersten Weltkrieg war der Glaube Witzleben ständiger Begleiter. In seinem privaten Kriegstagebuch wird sein tiefes inneres Verhältnis zu Glauben und Gott besonders deutlich. Es fallen besonders zwei Dinge auf: Zum einen die zahlreichen Eintragungen zu Gottesdienstbesuchen, zum anderen Äußerungen zu Gott im Alltag. 206Der ganz selbstverständliche Glaube an die übergeordnete göttliche Fügung spricht sehr deutlich aus seinen Worten. Und daraus schöpfte er viel Kraft für das tägliche Leben und Überleben. Häufig nannte er die vom schlesischen Pfarrer Pflanz vorgetragenen Predigten »erbaulich« oder auch »erhebend« 207. Mit Pflanz, zu dem er während seiner Liegnitzer Zeit schon Beziehungen gepflegt hatte, hielt er während des Krieges weiter enge Verbindung. Oft saßen sie bis in die Nacht zusammen und sprachen über religiöse Fragen. Die Predigten führten bei Witzleben auch zur Auseinandersetzung mit manchen theologischen Themen. So setzte er sich zum Beispiel mit Luthers Einstellung zum Krieg ebenso auseinander, wie mit göttlichen Geboten und Fragen zur Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer. 208Im Alltag bat er Gott immer wieder um Schutz für seine Familie und eine glückliche Heimkehr. Aus seinen Worten ist deutlich zu spüren, dass es für ihn »ohne den Herrgott« 209nicht ging, wie er auch nach dem Krieg immer wieder sagte. Im Krieg fühlte er sich dann in vielen Bedrohungen beschützt. 210Auch im Verlauf seiner weiteren Karriere lag ihm daran, zu den Militärgeistlichen seiner Verbände gute Beziehungen zu unterhalten. 211
Drittes Kriegsjahr – 1916
Zum Jahresbeginn beherrschte Witzleben die Hoffnung, dass die geplanten Angriffe auf Verdun erfolgreich durchgeführt würden. Ende Februar griff auch seine Kompanie ein. Am 8. März hatte sie den Auftrag, beim geplanten Sturm auf Fort Vaux die Spitze der Angriffstruppe zu bilden. Jedoch wurde das stark befestigte Fort zäh verteidigt, Mondlicht und der Schnee erhellten zudem das Gelände: der Sturm schlug fehl. 212Witzlebens Kompanie hatte sich aber so gut geschlagen, dass ihr Kompanieführer von allen Vorgesetzten bis hin zum Divisionskommandeur gelobt wurde. Und am 11. März 1916 erhielt er für die »heldenhafte Tapferkeit« 213seiner Kompanie das Eiserne Kreuz 1. Klasse. 214
Kurz darauf, am 25. März, übernahm Witzleben die neu aufgestellte 6. Kompanie seines Regimentes als Kompanieführer. Am 7. April wurde er bei einem Granatenangriff verwundet: Ein Splitter drang in die Stirn, ein weiterer traf ihn über dem linken Auge und ein dritter verletzte sein linkes Ohr. 215Im Lazarett angekommen, setzten für kurze Zeit seine Nerven aus, und er bemerkte auch einen Tag später – schon wieder auf seinem Posten, in einem neuen, aus Stein gebauten Unterstand –, als die Granaten wieder flogen, dass »meine Nerven doch gelitten hatten, durch die gemeine Angst, die ich hatte.« 216Monatelange Anspannung und psychisch belastende Situationen forderten auch von Witzleben ihren Tribut. Aber er verharrte auf seinem Posten und wurde auch von seinem Vorgesetzten als weiter einsatzfähig eingeschätzt. Schon zwei Wochen später übernahm er kurzzeitig als stellvertretender Kommandeur die Führung eines Bataillons des Regimentes. 217
Am 30. April schließlich zum verdienten Fronturlaub entlassen, kam er Ende Mai zurück und freute sich Anfang Juni über die Nachricht, dass Fort Vaux nunmehr gefallen sei. 218Erste Kritik an der frontfremden militärischen Gesamtführung schimmert allmählich bei Witzleben durch: Bei einem Reitturnier begegnete er zahlreichen Herren der Obersten Heeresleitung (OHL) und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wohl noch nie einen Franzosen zu Gesicht bekommen hatten. 219
Mitte August übernahm er schließlich – wieder als Kompanieführer – die Maschinengewehrkompanie des Regimentes mit 18 Maschinengewehren und zwei 5,7-cm-Kanonen und wurde immer wieder an vorderster Front in den Kampf geschickt. 220Ende August hielt sich Witzleben für drei Tage zu einem Gaslehrgang in Köln auf. 221Im September führte er kurzzeitig zwei Bataillone seines Regimentes 222, um dann am 19. September zum Stab der 9. Reserve-Infanterie-Division versetzt zu werden. Sein Vorgesetzter war der Erste Generalstabsoffizier (Ia) der Division, Hauptmann im Generalstab (i.G.) Ernst Hesterberg, dem Witzleben nun zuarbeiten sollte. 223Er begann, seinen Vorgesetzten zu schätzen, und es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen. 224Am 16. Dezember wurde er schließlich Vierter Generalstabsoffizier (Id). 225
Weihnachten erlebte er dieses Mal – ganz anders als im Jahr vorher – in festlicher Umgebung im prunkvollen Saal des Divisionshauptquartiers: wieder eine der vielen unterschiedlichen Facetten des Krieges. 226
Viertes Kriegsjahr – 1917
Das neue Jahr begann mit großer Unruhe. Witzleben schlief schlecht und träumte wirr – der Krieg zerrte weiter an seinen Nerven. 227Ende Januar konnte er indes Brüssel besuchen und im Palasthotel für kurze Zeit ein wenig Erholung finden. 228
Am 15. April wurde der Infanteriehauptmann Führer des II. Bataillons des Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 6, vom 2. Mai an dessen Kommandeur. In der Arrasschlacht wenige Tage später kämpfte er wieder ganz vorne, kommandierte kurze Zeit sogar zusätzlich das III. Bataillon seines Regimentes. 229Für seinen Einsatz an der Front bekam der Bataillonskommandeur hohe Anerkennung, namentlich vom Divisionskommandeur. Am 12. Mai 1917 wurde Witzleben Ritter des Hamburgischen Hanseatenkreuzes 230, was ihn in Erinnerung an seine Männer von der 14. Kompanie besonders freute. 231
Wo er konnte, nutzte er auch die Gelegenheit, kulturelle Angebote wahrzunehmen. So besuchte er beispielsweise Ende Mai 1917 in Lille bei einem Auftritt der Schweriner Hofoper den »Siegfried«. 232Und im Juli desselben Jahres erlebte er in Antwerpen belgische Kunst und Kultur 233, sah im November Wagners »Walküre« 234und genoss im Monat darauf das Theater in Sedan. 235Aber das Leben zeigte weiterhin viele unterschiedliche Facetten. So starb sein Pferd Max am 12. Juli, was ihn sehr traurig stimmte. 236
Nach jahrelanger Zugehörigkeit verließ Witzleben die 9. Reserve-Infanterie-Division und wurde am 20. Juli 1917 bodenständiger Generalstabsoffizier bei der 4. Bayerischen Infanterie-Division. Deren Kommandeur, Prinz Franz von Bayern, überbrachte kurz darauf seinem neuen Stabsangehörigen den Königlichen Preußischen Hausorden von Hohenzollern 237, den Witzleben fortan voller Stolz trug. 238
Wenige Tage später wurde er wieder um eine neue Erfahrung reicher: Man lud ihn als Ersatzrichter zu einer Kriegsgerichtssitzung. Fälle von Disziplinlosigkeiten wurden verhandelt, und Witzleben zeigte sich froh darüber, dass es in seiner Kompanie nie zu entsprechenden Ausfällen gekommen war. 239
Ende September 1917 wurde er kurzzeitig in den Stab der 2. Garde-Reserve-Division versetzt. 240Ab dem 24. November nahm er am Generalstabskurs in Sedan teil, schließlich sollte und wollte er Generalstabsoffizier werden und dafür benötigte er den abschließenden theoretischen Kurs. In Sedan traf er auch auf seinen Cousin Wolf-Dietrich von Witzleben und genoss es, den gesamten Lehrgang mit einem weiteren Cousin – Dietrich von Witzleben – absolvieren zu können. Auf der anderen Seite war er wenig begeistert von den vielen schriftlichen Arbeiten, denn das Theoretische hatte ihm schon als Kadett nicht gelegen. Ende Dezember zog er aber ein positives Fazit und kehrte mit der Befähigung zum Generalstabsdienst zu seiner Division zurück. Mit ihm waren nur noch zwei weitere Lehrgangsteilnehmer erfolgreich, die anderen fielen durch. Nun wartete er darauf, ordentlicher Generalstabsoffizier zu werden. 241
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