„He!“ schrie ich. „So war das nicht gemeint! Loslassen!“
Einen Moment lang war sein lachendes Gesicht dicht vor dem meinen. Ich war sicher, daß er mich gleich küssen würde, einfach so vor Matty und Mikesch, aber er tat es nicht. Er stellte mich so unvermittelt ab, daß ich beinahe den Halt verlor, und sagte mit gespieltem Keuchen: „So leicht ist sie gar nicht auf den Arm zu nehmen. Du bist ein verdammt schweres Mädchen, Nell.“
„Ich wiege hundert Pfund!“ erwiderte ich entrüstet.
Matty war sofort zu meiner Verteidigung bereit. „Nell und schwer?“ sagte er. „Die ist doch ein Fliegengewicht!“ Und er wollte mich zum Beweis ebenfalls hochheben.
Diesmal aber protestierte ich. „Hört auf damit“, sagte ich. „Ich glaube, die ersten Sonntagsschüler kommen.“
Ein brauner Mini-Cooper kam über die Auffahrt geprescht und hielt haarscharf vor dem Torbogen. Der Wagenschlag öffnete sich. Ein schlankes blondes Mädchen mit maßgeschneiderter Reithose und eleganter Seidenbluse stieg aus. Ihre Reitstiefel glänzten. Das war Anja, die Tochter eines Rosenheimer Metzgermeisters.
Anja sah uns und schlenderte ohne jede Scheu auf uns zu. Unsicherheit schien sie nicht zu kennen, und sie war wirklich hübsch.
„Hallo“, sagte Anja. „Ich bin ein bißchen zu früh, nicht?“
Mikesch erwiderte freundlich: „Das macht nichts. Du kannst uns vor der Stunde noch helfen, Eileen und Julka zu striegeln. Die beiden haben sich heute schon im Schlamm am Bachufer gewälzt und sehen wie Erdschweine aus.“
Anja schluckte einen Augenblick und nickte dann. Ich war überzeugt, daß sie diese Zumutung bei jedem anderen empört zurückgewiesen hätte, doch mit Mikesch war das etwas anderes. Ich hatte schon letzten Sonntag beobachtet, wie sie ihm verstohlene Blicke zuwarf.
Ich sah Jörn und Matty von der Seite an und stellte fest, daß sie sich genau wie ich das Lachen verbeißen mußten. Nur Mikesch machte ein todernstes Gesicht. Er wandte sich ab und ging zum Stall voraus, und wir folgten ihm.
Zwanzig Minuten später waren Anjas teerosenfarbene Bluse und ihre maßgeschneiderte Reithose voll schwarzbrauner Flecken. Ihre kunstvoll abgetönten Lidschatten waren ineinandergelaufen, und die Wimperntusche bildete dunkle Ringe unter ihren Augen. Durch die Makeup-Schicht zogen sich Schweißspuren, Sie tat mir leid.
„Wenn du dich waschen willst, zeige ich dir, wo der Brunnen ist“, sagte ich, während die anderen Reitschüler auftauchten.
Sie machte ein Gesicht, als wüßte sie nicht, ob sie sich über mich ärgern oder mir dankbar sein sollte. Wortlos folgte sie mir in den Innenhof, wo an der Stallmauer ein Wasserhahn über einem großen Steintrog angebracht war. Der alte Ziehbrunnen wurde schon seit langem nicht mehr benutzt.
Anja wusch sich gründlich und sah plötzlich ganz normal und viel jünger aus. Dann streckte Jörn den Kopf aus dem Stallfenster und winkte uns zu. Die Reitstunde begann.
Die Sonntagsschüler sattelten ihre Pferde ohne unsere Hilfe. Dann führte Mikesch die Abteilung zur Schwammerlwiese. Marnie und Nell standen am Zaun der kleinen Koppel und sahen neugierig herüber.
Ich blieb einige Zeit zwischen Jörn und Matty am Gatter stehen, um zuzusehen. Anja, fand ich, saß schon recht gut im Sattel, wenn sie auch immer wieder den Fehler machte, Solveig zu hart am Zügel zu nehmen. Dagegen hopsten Mücke und Charly, zwei Schwestern aus einem Dorf nicht weit von Mariabrunn, ziemlich hilflos herum. Ich wußte nicht, was ich von den beiden halten sollte. Sie kicherten meistens albern, wenn man mit ihnen redete, waren ein paar Jahre jünger als ich und erinnerten mich mit ihren verschmitzten Gesichtern ein bißchen an Max und Moritz von Wilhelm Busch.
Gut gefiel mir Alex, der Neffe von Doktor Hofbauer, unserem Tierarzt. Alex war ein schweigsamer, siebzehnjähriger Junge, dem man anmerkte, daß er Pferde liebte. Ich hatte am vergangenen Sonntag nach dem Reitunterrieht bemerkt, daß er noch lange an der kleinen Koppel stand und Marnie und Nell ganz versunken beobachtete, ehe er mit seinem Fahrrad nach Hause fuhr.
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, rede ich einmal mit ihm, dachte ich, während ich zusah, wie er mit konzentriertem Gesichtsausdruck Leichttraben übte. Seine schulterlangen Haare hatte er zum Reiten im Nacken zusammengebunden, so daß er mit seinem schmalen Gesicht wie ein Höfling aus der Zeit Mozarts aussah. Irgendwie kam er mir wie ein Außenseiter vor. Ich fand, daß er nicht recht zu den anderen Reitschülern paßte.
Außer Alex, Anja, Mücke und Charlie nahmen noch drei Mädchen am Reitunterricht teil, die eine Privatschule im Chiemgau besuchten. Ihre Eltern hatten offenbar vereinbart, die Mädchen sonntags abwechslungsweise nach Dreililiern zu bringen. Diesmal hatte sie ein Vater im Auto hergebracht, während letzten Sonntag eine Frau mit dabei gewesen war. Zum Glück fuhr Herr Thorsten sofort wieder ins Dorf, nachdem er die drei Mädchen abgeliefert hatte. Heute standen also keine ängstlichen Eltern dabei und sahen den Reitversuchen ihrer Sprößlinge zu.
„Der Mikesch hat wirklich eine Engelsgeduld“, sagte Matty neben mir. „Jetzt kapieren die Mädchen noch immer nicht, wie man ein Pferd richtig an die Zügel stellt. Gut, daß du den Unterricht nicht abhalten mußt, Jörn. Du hättest sicher schon einen Tobsuchtsanfall bekommen!“
„Hätte ich nicht“, widersprach Jörn. „Mit Wut und Geschrei erreicht man gar nichts. Man macht bloß Reiter und Pferde scheu. Die drei brauchen eben etwas länger als die anderen, bis sie es lernen. Aber Mikesch schafft das schon.“
Ich sagte: „Anja reitet gut, finde ich.“
„Sie hat auch schon ein halbes Jahr lang Einzelunterricht gehabt“, erwiderte Matty. „Das hat ihr Vater Mikesch am Telefon gesagt. Aber mit der Zügelführung hapert’s noch gewaltig. Außerdem hat sie nicht die richtige Einstellung zum Reiten. Wer es bloß lernt, weil er sich damit interessant machen will, sollte es lieber bleiben lassen.“
Jörn stieß ein Schnauben aus. „Ich nehme an, sie möchte sich später mal ein eigenes Reitpferd kaufen und an Turnieren teilnehmen, weil sie das schick findet. Aber eigentlich geht es uns ja nichts an, weshalb die Leute nach Dreililien kommen. Wir müssen froh sein, wenn sie ihr Geld hierlassen.“
Seine Stimme hatte einen bitteren Unterton. Ich sah ihn von der Seite an. Er schien meinen Blick zu spüren und erwiderte ihn.
„Immer das verdammte Geld!“ murmelte ich. „Es bestimmt unser ganzes Leben. Dauernd muß man sich danach richten. Wenn man boß mal so viel Geld hätte, daß man frei wäre und nicht immer Rücksicht darauf nehmen müßte!“
„Glaubst du vielleicht, daß reiche Leute frei sind?“ fragte Jörn. „Da irrst du dich aber gewaltig, Nell. Die lassen sich von anderen Sachen einengen – zum Beispiel von der Angst, daß man ihnen ihr Geld wieder wegnehmen könnte, oder von dem Trieb, immer mehr anzuhäufen. Oder sie langweilen sich und wissen nicht, was sie mit sich und ihrem Reichtum anfangen sollen. Am besten wär’s, jeder hätte so viel, wie er zum Leben braucht. So lange es Reiche gibt, die im Überfluß leben, und Arme, die ständig um ihre Existenz kämpfen müssen, kann die Welt ja nicht in Ordnung sein.“
„Wenn ich Geld hätte, wüßte ich jedenfalls, was ich damit anfangen würde, das steht mal fest“, sagte Matty. „He, zum Teufel, was macht diese komische Charly da? Wenn sie nicht aufpaßt, wird sie abgeworfen, ehe sie bis drei zählen kann!“
Er hatte kaum ausgesprochen, da war es schon passiert. Charly hatte wieder einmal den Clown gespielt und irgendwelche Faxen gemacht. Das war Rapunzel zuviel geworden. Die Stute war plötzlich quer durch die Bahn galoppiert und hatte ihre Reiterin wie eine lästige Fliege abgeschüttelt.
Charly flog ausgesprochen unelegant durch die Luft und landete mit einem Plumps auf dem Hosenboden. Zum Glück war das Gras auf der Schwammerlwiese ziemlich dicht. Sie hatte sich nicht verletzt und kam mit dem Schrecken davon. Einen Augenblick lang saß sie unbeweglich wie ein Gartenzwerg da und machte ein dummes Gesicht.
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