Petra trank ihm zu. Dann stand sie auf. Sie mußte gehen. Es war allerhöchste Zeit.
Perm packte sie bei beiden Händen. Er schrie, es sei ganz ausgeschlossen. Man habe sich gerade kennengelernt. Auf keinen Fall würden sie Petra jetzt laufen lassen. Ein andermal? Um Himmels willen, nur nichts aufschieben. Jeden Augenblick konnte ein Telegramm kommen und ab dafür und wieder in die Kiste gesetzt und mit Udo, dem Kater, über fremde Länder geschaukelt. Es konnte ja doch sein, daß Udo abstürzte, und ob er, Perm, noch rechtzeitig würde aussteigen können ... Also, ausgeschlossen.
Kniestedt und Rudo Mense protestierten gleichfalls. Nur Hasselberg sagte kein Wort. Ihm fielen nur Dummheiten ein. Er merkte plötzlich, daß er sich verliebt hatte, und wurde rot bei dem Gedanken, die Petersen könne das merken. „So ein Blödsinn“, sagte er schnell. Und dann langsamer: „Daß Sie gehen wollen.“
Es blieb nichts anderes übrig: Petra konnte sich nur loskaufen, indem sie den letzten Urlaubsabend der vier, den Freitagabend, wieder mit ihnen zu verbringen versprach. Sie spielte in „Mensch und Übermensch“ von Shaw die Ann Whitefield. Wenn die Herren sich das Stück ansehen wollten, würde sie vier Karten besorgen. Aber es mußte nicht sein. Sie würde sonst nach dem Theater um zehn hier sein.
Damit hatte sie den Mantel zugeknöpft, gab allen die Hand und ging hinaus. Sie stand noch einen Augenblick bei Stedtner, der ziemlich betrunken war. Er sagte leise, indem er den angelehnten Stuhl leicht hin- und herwippte: „Willst du nicht einen Augenblick hier Platz nehmen, eckige Petra? Einen Augenblick nur.“
Petra strich ihm über den Kopf und sagte: „Red’ keine Dummheiten, Stedtner! Was sollte ich auf diesem Stuhl?“
„Einen Augenblick nur“, lallte Stedtner. Sein Gesicht war wüst und leer.
In diesem Augenblick stand Hasselberg, im Mantel, die Mütze in der Hand, neben Petra, nahm sie am Arm und führte sie hinaus, indem er sich leicht und höflich gegen Stedtner verbeugte.
Stedtner starrte den beiden nach, nahm den Stuhl und drehte ihn mit dem Rücken zum Tisch, so daß der Sitz nach außen zeigte. „Nun kann keiner sitzen“, sagte er befriedigt und prostete den Stuhl an.
Der Mond war nun aufgegangen. Aber man sah es nur an der halben Helle, die wie trübes Wasser zwischen den Häusern floß. Hasselberg hatte Petra immer noch untergehakt. Sie sagte etwas ärgerlich: „Sie brauchen mich wirklich nicht zu begleiten. Es ist gar nicht weit. Knapp zehn Minuten.“
Hasselberg antwortete: „Ich bin so erzogen, daß ich meine Dame nach Hause begleite.“
Petra spottete: „Ihre Damen haben auch sicher Angst allein zu gehen. Aber ich bin es gewöhnt. Neulich mußte ich anderthalb Stunden zu Fuß gehen, weil die letzte Bahn weg war.“
Sie hatte ihm bei diesen Worten den Arm entzogen und steuerte über die Straße. Sie sagte: „Noch dreimal um die Ecke, dann bin ich da. Gehen Sie doch zu Ihren Kameraden zurück.“
Hasselberg antwortete: „Die warten auf mich. Wir gehen dann noch weiter.“
Sie gingen ein, zwei Minuten schweigend. Dann fragte Petra: „Warum sind Sie eigentlich nicht nach Hause auf Ihr Gut gefahren?“
Hasselberg zuckte die Achseln: „Wir hatten uns verabredet. Die drei andern und ich.“
Petra nickte: „Aber warum haben Sie sich verabredet? Statt vier Tage nach Hause zu fahren und im Stabhochsprung über die Bäume?“
Hasselberg lachte. Aber er sagte nichts. Dann, nach einer Weile: „Reden wir lieber von Ihnen.“
Petra antwortete: „Nein, verbindlichsten Dank. Dann reden wir lieber gar nichts.“
„Gut“, sagte Hasselberg, packte die Schauspielerin und küßte sie. Petra war eigentlich nicht überrascht. Sie hatte es im Gegenteil erwartet. Aber mehr beim Abschied, vor der Haustür. Und sie hatte sich schon überlegt, wie sie da entschlüpfen würde. In diesem Moment also hatte sie nicht aufgepaßt. Sehr ärgerlich. Sie gingen schon wieder nebeneinander.
Petra sagte: „Schauspielerinnen sind verrucht und dämonisch. Darum küßt man sie bei erster Gelegenheit. Ich finde das ziemlich albern.“ Hasselberg nickte: „Ich habe gar nicht dran gedacht, daß Sie eine Schauspielerin sind. Und noch dazu eine berühmte.“ „Was haben Sie denn gedacht?“ murrte Petra.
Hasselberg pfiff vor sich hin:
„Die Trommel gerühret!
Das Pfeifchen gespielt!
Mein Liebster gewaffnet
Dem Haufen befiehlt.“
Er blieb plötzlich stehen und zwang wieder mit dem gleichen heftigen Griff Petra auch stehenzubleiben. Sie wich einen Schritt zurück. Hasselberg lachte vergnügt. Es war ein gluckerndes, glucksendes Lachen, bachartig, nein, wie eine Waldquelle hörte es sich an. Er sagte: „Sie dachten natürlich, ich wollte Sie wieder küssen. Aber Irrtum. Das nächste Mal sind Sie dran. Oder wenigstens müßten Sie mich bitten.“ „Ich werde Sie nicht bitten“, sagte Petra, „und nun müssen wir uns verabschieden.“ Sie streckte ihm die Hand hin. Hasselberg nahm sie und sagte: „Es ist noch nicht so weit. Ich zähle bis zehn, und wenn Sie mich dann noch nicht bitten, Sie zu begleiten ... dann kehre ich wirklich um.“
Die Augen der beiden hatten sich jetzt endlich ganz an das fahle Mondlicht gewöhnt. Der Nebel hatte die Haare Petras, die unter der Mütze hervorfielen, gekräuselt. Feine Tröpfchen von Nebel saßen in den Augenbrauen Hasselbergs und ließen sie grau erscheinen. „Eins, zwei, drei“, zählte Hasselberg.
„Ich weiß jetzt, wie Sie aussehen werden, wenn Sie alt sind“, sagte Petra.
„Vier, fünf, sechs“, antwortete Hasselberg. „Es ist noch nicht amtlich, meine Dame, ob ich alt werde. Sechsundzwanzig, ein höchst kritisches Alter im Augenblick. Aber jetzt weiß ich, daß Sie eine Schlangendame sind ... Ich meine nicht so eine im Zirkus, die sich in die Hacken beißt ... sieben, acht ..., sondern die griechische Sagendame ... mit den Schlangen auf dem Kopf ...“
„Erinnye“, sagte Petra lächelnd. „Und neun.“
Hasselberg begann: „Und die letzte Zahl ... und das letzte Mal ... sagten wir als Kinder ...“
Petra zog ihre Hand weg. Sie sagte: „Ich biete Ihnen Frieden an.“
Weiter kam sie nicht. Denn in diesem Augenblick setzte die Alarmsirene ein. Direkt zu ihren Häupten mußte so ein brüllendes Ungetüm angebracht sein. Petra erschrak, Hasselberg lachte: „Keine Erinnye, sondern eine lieblich klingende Sirene.“
„Ich laufe schnell“, sagte Petra und trabte schon um die nächste Ecke.
Hasselberg hielt sich vergnügt pfeifend neben ihr. Er sagte: „Spätsport ... Donnerwetter ... Gut in der Atmung ... Wo haben Sie laufen gelernt ...?“ „Unser Keller ist ganz nett“, keuchte Petra. „Sie dürfen mit auf unserem Sofa sitzen.“
„Wer ist der andere von unser?“ pustete Hasselberg. Petra antwortete nicht gleich. Sie sagte, indem sie quer über die Straße wies: „Noch fünfhundert Meter.“
„Sie haben also vorhin gelogen“, stellte Hasselberg weiterlaufend fest.
„Natürlich“, sagte Petra nun doch atemlos. „Sie waren vorhin ja auch albern.“
„Bei Alarm soll man sich die kleinen Sünden verzeihen“, knurrte Hasselberg.
„Und die großen?“ fragte Petra außer Atem.
„Die muß man dem lieben Gott zur Entscheidung überlassen. Ist auch praktischer. Er ist nicht kleinlich“, antwortete Hasselberg.
Sie waren immer noch fünfhundert Meter von Petras Wohnung entfernt. Sie mußte mit Laufen aufhören und ihre Lüge eingestehen. Hasselberg sagte anerkennend: „Sie lügen ziemlich großzügig. Sagen wir: noch fünf Autominuten, wie?
„Sie werden ja sehen“, sagte Petra. Sie fuhr zusammen. Denn nahe bei ihnen brüllte ein großes Flakgeschütz los. Die kleineren bellten aus dem Garten. Knatternd fuhr die Leuchtspurmunition gegen den Himmel. Ein Leuchtschirm sank wie ein riesiger Stern, den Nebel geisterhaft erhellend, bis in die Höhe der Kirchtürme. Gleichzeitig fiel ein Flaksplitter klatschend auf das Dach einer Garage dicht neben ihnen.
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