2001 |
Stein, Achim. 1998: Einführung in die französische Sprachwissenschaft, Stuttgart: Metzler (Sammlung Metzler, Band 307). In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111.1, 95–97. |
2001 |
Franceschini, Rita. 1998: Riflettere sull‘interazione. Un‘introduzione alla metacomunicazione e all‘analisi conversazionale. Milano: Francoangeli (Materiali Linguistici. Coll. a cura dell‘Università di Pavia, Dipart. di Linguistica, Vol. 22). In: Vox Romanica 60, 281–284. |
2007 |
Cerquiglini, Bernhard. 2004: La Genèse de l'orthographe française (XIIe-XVIIe siècles). Paris: Honoré Champion (= Unichamp-Essentiel 15). In: Romanische Forschungen 119.2, 223–225. |
Nachdenken über Nähe und Distanz
Maria Selig / Roland Schmidt-Riese
Unser Beitrag möchte Chancen diskutieren, mit dem von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entworfenen Nähe-Distanz-Kontinuum auch in Zukunft zu arbeiten. Er konzentriert sich dabei auf die Unterscheidung zwischen kommunikativer Nähe und Distanz, sowie auf einige weitere Konzepte der Autoren, die dieser Unterscheidung zugrunde liegen. Wir sehen uns zu diesem Unternehmen zum einen durch Erfahrungen in der romanistischen Lehre ermutigt – den Studierenden scheint das Modell attraktiv und erklärungsmächtig. Zum anderen fordert die sprachtheoretische Tiefe, auf die das Modell selbst rekurriert, die intensive Auseinandersetzung und den kritisch-reflektierten Zugang geradezu heraus. Wir bedauern, unsere Überlegungen nicht mehr mit den Autoren des Nähe-Distanz-Kontinuums teilen zu können. Wir sehen uns aber durch eine biographisch fundierte Loyalität ihnen gegenüber legitimiert, auch kritische Positionen zu beziehen und das Modell weiterzuentwickeln.
Die Diskussion wird insgesamt darauf hinausgehen, determinierende Annahmen des Modells zu diskutieren, sie zu schwächen oder gegebenenfalls auch zu stärken, um ihre Adäquation zu erhöhen. Ferner darauf, Annahmen des Modells je für sich und ohne Rücksicht auf andere Annahmen, mit denen sie in Verbindung stehen, zu diskutieren. Wir verbinden damit den Gedanken, dass eine ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums die Chance bietet, dessen Potenzial auch dann noch entfalten zu können, wenn bestimmte, unserer Meinung nach reduktive Theorieelemente zurückgewiesen werden. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen als der Versuch zu verstehen, das Modell im Spannungsfeld zwischen aktuellen mediendeterminierten oder medienaffinen Ansätzen und älteren, klassisch gewordenen pragmatisch-funktionalen Ansätzen neu zu situieren und auf diese Weise seine Aktualität unter Beweis zu stellen. Die Autorin und der Autor ind skeptisch in Bezug auf die weit verbreitete Überzeugung, der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte habe frühere Annahmen der Sprachtheorie insgesamt obsolet werden lassen (siehe auch Maas 2016: 89).
1 Sprachliche Kommunikation – zwischen Bruch und Kontinuum
Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und von gesprochener und geschriebener Sprache beruht auf der Beobachtung eines manifesten Kontrasts. Das, was man den Exterioritätstypus des sprachlichen Zeichens nennen könnte, also seine phonisch-auditive vs. seine graphisch-visuelle Materialität und die mit dieser Materialität verknüpften Produktions- und Rezeptionsbedingungen, eröffnet zwei Phänomenbereiche sprachlicher Kommunikation, die sich unvereinbar gegenüberzustehen scheinen. Gleichzeitig scheint mit diesem medialen Bruch ein evidenter Kontrast zwischen kommunikativen Praktiken und kommunikativen Kompetenzen verbunden zu sein. Schreiben und Lesen sind kulturelle Techniken, die anders erlernt werden müssen als die körperlichen Dynamiken der Phonation und des Hörens; mindestens ebenso wichtig dürfte der Kontrast zwischen den kommunikativen Domänen sein, die wir mit den Exterioritätstypen assoziieren, auch wenn die digitale Schriftlichkeit im Netz diese Differenz gerade einzuebnen scheint. Um eine Metapher zu bemühen: Mündlichkeit und Schriftlichkeit erscheinen wie zwei kommunikative Plateaus, die durch die mediale Differenz wie durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Man muss nicht lange suchen in den zahlreichen Texten, die die (sprachliche) Medialität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu Kommunikation, Wissen, Normen und Sozialität stellen. In dieser jahrtausendealten Debatte sind Stimme und Schrift in aller Regel unvereinbare Gegensätze, Gegensätze, die zur Parteinahme auffordern, gegen die Schrift als zerstörerischen Eindringling in authentische Verständigung oder gegen die Stimme als überwundene Frühstufe in einer kognitiv-kommunikativen Erfolgsgeschichte.1
Dass der Gegensatz nicht so abgrundtief ist, dass sich Brücken ergeben, die diesen Abgrund überspannen, scheint man aber auch immer irgendwie gewusst zu haben. Letztendlich ist ja die Sprache die Brücke, denn diesseits und jenseits der medialen Dichotomie werden offenbar identische sprachliche Formen mit offenbar identischer Bedeutung verwendet, Formen, die man also in beide Richtungen über die Brücken schicken kann, von der Phonie in die Graphie und zurück. Es sollte uns zu denken geben, dass der (mediale) Abgrund zunächst, vor der Professionalisierung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, von den Philosophen angesprochen wurde, während die Grammatiktradition die sprachlichen Zeichen (von der Schrift aus) als medienunabhängige Entitäten konzipierte und die Brücken, den Transfer von einem Medium in das andere, dabei als selbstverständlich voraussetzte.
Wir können die Geschichte der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsdebatte hier nicht weitererzählen. Wir müssen aber auf sie verweisen, denn Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben sich mehrfach auf sie bezogen. Der Medialitätsdiskurs der Sprachwissenschaft, aber auch der kultur- und sozialwissenschaftliche, erscheinen bereits im grundlegenden Manifest von 1986 (Koch/Oesterreicher 1985) als Hintergrund, vor dem sich ihre theoretischen Präzisierungen und ihre terminologischen Vorschläge abzeichnen sollen. Der Hintergrund, das ist also das nahezu verfahrene Wechselspiel zwischen den beiden Polen der Diskussion: auf der einen Seite die Denker*innen, die Medialität in ihr Denken integrieren und ihr einen wichtigen Platz im kommunikativen Handeln geben möchten, gleichzeitig aber die mediale Dichotomie immer mehr festzurren und die Brücken unpassierbar machen; auf der anderen Seite diejenigen, die das Gemeinsame auf beiden Seiten der medialen Dichotomie sehen, aber gleichzeitig Medialität als arbiträr einstufen und damit wesentliche Aspekte sprachlicher (und kulturell-sozialer) Variation unsichtbar machen.
Wir alle wissen, wie es weitergegangen ist. Peter Koch und Wulf Oesterreicher setzen sich radikal vom Medium ab und fokussieren, anstelle des Gegensatzes graphisch/phonisch, die Konzeption, ein „multiples Spektrum unversöhnter Gegensätze“ (Feilke 2016: 120), das erst in einem zweiten Schritt durch die umfassende Generalmetapher von Nähe und Distanz zusammengeschlossen wird. Die beiden Terme sind konträr, aber nicht kontradiktorisch, sie spannen also bereits in ihrer wechselseitigen Implikation ein Kontinuum auf (siehe Feilke 2016: 123). Dieses Kontinuum nachzuweisen, also den Übergang, die Durchlässigkeit zwischen den kommunikativen Räumen, die die Medialitäten abgrenzen, nachzuweisen, war eine zentrale Intention der Autoren. Sie sind deshalb an der Konzeption erkennbar stärker interessiert als an dem, was sie Medium nennen, am Gegensatz von Graphie und Phonie. Gleichzeitig dominiert der Wunsch, das Medienunabhängige der im Kontinuum modellierten kommunikativen Variation sichtbar zu machen. Die mediale Dimension gerät deshalb ins Hintertreffen, man könnte sagen, willentlich, weil die ganze Energie darauf konzentriert ist, das Bild der beiden, durch den medialen Abgrund getrennten Plateaus durch das Bild des Kontinuums, der Möglichkeit eines bruchlosen Übergangs von der Nähe zur Distanz, zu überblenden.
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