1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Sind die Begriffe von Nähe und Distanz also insgesamt erhellend oder verschalten sie miteinander, was nicht zusammengehört? Bezogen auf die prozessualen Aspekte der Kommunikation, der in der geteilten Situation und der über den Abgrund zwischen zwei Situationen, erscheinen Nähe und Distanz zunächst in gewissem Sinn deskriptiv. Hier sind sie nicht von vornherein Metaphern. Soziale Nähe ist an prozessuale Nähe in keiner Form gebunden, wenn sie uns in prozessualer Nähe auch nicht überraschen kann. Soziale Nähe ist bereits Metapher. Mit der Entfernung aus prozessualer Nähe ist aber in jedem Fall eine soziale Entfernung verbunden insofern, als die Gewissheit der raum-zeitlichen Koinzidenz der Körper entfällt. Diese Entfernung gilt es womöglich zu kompensieren, je nach Interesse, aber dafür bleiben dann vor allem die Mittel der Sprache, also der Kognition. In prozessualer Nähe ist soziale Distanz natürlich auch herstellbar, auch soziale Distanz gehört zu unseren möglichen Zielen. Soziale Distanz herzustellen bedeutet gerade, die raum-zeitliche Koinzidenz der Körper zu limitieren, und das gelingt am besten durch die Kontrolle körperlicher Manifestationen, durch Sprache, durch Kognition. Unter der Bedingung sozialer Fremdheit tendieren wir also dazu, die geteilte Situation mental bereits zu verlassen. Wir setzen auf Kognition – wir sprechen, als wären wir nicht da . Wie oben ausgeführt, kann kognitive Distanz zur gegebenen Situation ferner auch unser eigentliches Ziel sein. Wir befassen uns gerade nicht mit der Fliege über unserem Bildschirm, sondern mit der Relativitäts- oder mit jeder anderen Theorie, wir suchen soziale Distanz und formulieren für ein generalized other . Distanz ist hier selbstverständlich Metapher, aber unsere Entfernung vom konkreten Gegenüber und aus der Situation, in der wir uns befinden, korrelieren. Körper und Blick und Stimme sind jetzt abgeschaltet. Auch diese Zusammenhänge, die zwischen sozialer Fremdheit und kognitiver Distanz zu den Gegenständen sollen hier nur angedeutet sein. Nähe und Distanz sind mehr als eine Metapher. Sie beschreiben in re korrelierte Dimensionen der Kommunikation.
Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (2007). Überlegungen zu Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.). Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer, 179–214.
Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (2006). Theorie des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.). Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000. Tübingen: Niemeyer, 3–31.
Feilke, Helmuth (2016). Nähe, Distanz und literale Kompetenz – Versuch einer erklärenden Rezeptionsgeschichte. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 113–154.
Goody, Jack (1986). The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge: Cambridge University Press.
Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.) (2016). Zur Karriere von ‚Nähe und Distanz‘: Rezeption und Diskussion des Koch-Oesterreicher-Modells. Berlin/Boston: De Gruyter.
Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (2016). Perspektiven auf ‚Nähe und Distanz‘ – Zur Einleitung. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 1–10.
Hennig, Mathilde (2006). Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel: kassel university press.
Humboldt, Wilhelm von (1973). Schriften zur Sprache. Stuttgart: Reclam.
Kehrein, Roland/Fischer, Hanna (2016). Nähe, Distanz und Regionalsprache. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 213–258.
Knobloch, Clemens (2016). Nähe und Distanz – betrachtet aus fachlicher Nähe und aus historiographischer Distanz. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 73–88.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf [1990] (2011). Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin/New York: De Gruyter.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1986). Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. Romanistisches Jahrbuch 36 [1985], 15–43.
Lausberg, Heinrich (1969). Romanische Sprachwissenschaft. 3 Bde. Berlin: De Gruyter.
Maas, Utz (2016). Was wird bei der Modellierung mit Nähe und Distanz sichtbar und was wird von ihr verstellt? In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 89–112.
McLuhan, Marshall (1962). The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man. Toronto: University of Toronto Press.
Oesterreicher, Wulf/Koch, Peter (2016). 30 Jahre ‚Sprache der Nähe – Sprache der Distanz‘. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 11–72.
Selig, Maria (i. Dr.). Diamesic Variation. In: Ledgeway, Adam/Maiden, Martin (Hrsg.). The Cambridge Handbook of Romance Linguistics.
Selig, Maria (2018). Kodes, mediale Dispositive und konzeptionelle Variation: Einige Überlegungen zum Nähe-Distanz-Modell. In: Nicklaus, Martina/Wirtz, Nora/Costa, Marcella/Ewert-Kling, Karin/Vogt, Wiebke (Hrsg.). Lexeme, Phraseme, Konstruktionen. Aktuelle Beiträge zu Lexikologie und Phraseologie. Berlin: Lang, 253–266.
Selig, Maria (2017). Plädoyer für einen einheitlichen, aber nicht einförmigen Sprachbegriff: Zur aktuellen Rezeption des Nähe-Distanz-Modells. Romanistisches Jahrbuch 68, 114–145.
Söll, Ludwig (1985). Gesprochenes und geschriebenes Französisch. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt.
Steger, Hugo/Deutrich, Karl-Helge/Schank, Gerd/Schütz, Eva (1972). Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachverhaltensmodells: Begründung einer Forschungshypothese. In: Moser, Hugo (Hrsg.). Gesprochene Sprache. Jahrbuch 1972 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann, 39–97.
Tannen, Deborah (1990). You just don’t understand: Women and men in conversation. New York: Morrow.
Tophinke, Doris (2016). Sprachgeschichtsforschung im Horizont von Nähe und Distanz. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 299–332.
Zeman, Sonja (2016). Nähe, Distanz und (historische) Pragmatik. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 259–298.
Zribi-Hertz, Anne (2011). Pour un modèle diglossique de description du français. Quelques implications théoriques, didactiques et méthodologiques. Journal of French Language Studies 21, 231–256.
Sprachpuristische Bestrebungen der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Sarah Dessì Schmid
Von der Wissenschaft über das kulturkritische Feuilleton bis zur Populärkultur begleitet das Misstrauen gegen fremde – heute insbesondere gegen englische – Ausdrücke unseren Alltag. Das Streben nach einer ‚reinen‘ – klaren, perfekten, eleganten und prestigeträchtigen – Sprache sowie der Argwohn gegen eine vermeintlich drohende ‚Invasion‘ fremder Wörter in die ‚eigene‘ Sprache stellen ein höchst aktuelles Thema dar, das allerdings einer langen Tradition folgt.1 Vielleicht ist gerade die ablehnende Haltung gegen fremdsprachliche Ausdrücke der erfolgreichste, der plakativste Aspekt des Purismus; mit Sicherheit ist sie allerdings nur einer der vielen und komplexen Aspekte, die mit – mehr oder weniger intensiv und offensiv betriebener – puristischer Spracharbeit in Verbindung gebracht werden können.
Nach einer kurzen Rekonstruktion einiger früher Momente des europäischen Sprachpurismus werde ich in meinem Beitrag das Hauptaugenmerk auf die Rolle der puristischen Sprachkultur und Sprachpolitik im Selektions- und Ausbauprozess der Norm der Volkssprachen Italiens und Frankreichs richten und diese – unter besonderer Berücksichtigung medio-konzeptioneller Aspekte – einer vergleichenden Analyse unterziehen. Dabei werde ich darstellen, wie sich in der frühneuzeitlichen Debatte um die ‚Reinheit der Sprache‘ Normierungsbestrebungen, ästhetische Fragestellungen der literarischen Produktion und soziale Praxis miteinander in großräumigen soziokulturellen Prozessen verflechten und wechselseitig bedingen.2 Ins Zentrum dieser Überlegungen werde ich die Historizität der Texte (siehe u.a. Frank 1994; Selig/Frank/Hartmann 1993; Koch 1987; Koch/Oesterreicher 1990; Oesterreicher/Selig 2014) und der gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene stellen.
Читать дальше