1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Bruno Lotheisen strich sich über die Stirne. Jetzt auf einmal war er erst völlig wach. Sein Augen wurden schrecklich klar: Er sah den flammenden Erdkreis und, von ihm umschlossen, eine mächtige Burg, aus der von innen, verderbenspeiend, helle Feuerzungen schlugen. Deutschland in Brand . . .
„Niemals, Herr Lotheisen, hatte noch ein Volk fast die ganze Menschheit wider sich und zündete dabei noch das eigene Haus an. Niemals noch stürzte sich ein Volk in solch fürchterliche Gefahr . . .“
Dem Kirchenbauer Lotheisen krampfte sich das Herz zusammen. Sein Atem stockte. Er wurde auf einmal unheimlich hellsichtig. Er schaute über das ganze weite deutsche Vaterland hin. Schattenhafte, riesige Gespenster wuchsen rings in dessen Grenzen zum wetterblitzenden Himmel empor. Sie beugten sich todartig über das innen lohende deutsche Land. Knochenhände krallten sich nach den Schloten und Schiffsmasten, Hungerpeitschen sausten auf Frauen und Kinder, Skorpionengeisseln schwirrten über den Bergwerken und Wäldern, Negerfratzen grinsten über den Rebhügeln des Rheins. Säbel kreuzten sich gebieterisch über den Kirchtürmen der Städte — hunderttausendfach klang von ferne der Wehruf deutscher Kriegsgefangener. Kalter Angstschweiss trat ihm auf die Stirne.
„Dies irae, Herr Lotheisen, . . wir zanken uns im brennenden Haus! Wir schlagen alles selbst in Stücke, und aussen schlägt schon die Donnerfaust ans Tor. Nein — die Tore springen schon von selber auf! Sie kommen — die apokalyptischen Reiter — sie kommen . . .“
Jäh, mit einem Schlag, fühlte sich Bruno Lotheisen um vier Jahre jünger. Er war wieder im August 1914. Seine blauen Augen leuchteten. Begeisterung durchströmte seine Adern. Übervoll das Herz. Das Jauchzen Winkelrieds. Theodor Körners Opferblut. Empor über alles! Empor! Empor! Weib, Kind und Leben hinter mir! . . . Herr, hilf! Was liegt an uns! Nur hilf, Herr Zebaoth! Hilf unserer guten Sache . . .
Er umballte mit wildem Druck die Hände des Alten. Sein Atem keuchte. Seine Worte überstürzten sich.
„Noch leben wir! Solange wir leben, ist noch nichts verloren! . . . Kommen Sie! Kommen Sie!“
„Wohin?“
„Unter die Menschen draussen! Aufrufen! Predigen! Sammeln alle, die unseres Geistes sind! Mitreissen die anderen! Beschwören einen jeden, jetzt nur an das da draussen zu denken . . . an die gemeinsame Not! Not bricht Eisen! Aber Eisen bricht auch die Not! Vorwärts! Vorwärts! Ich bin bereit zu sterben! Sicher mit mir noch viele! — Damit müssen wir noch alles retten! . . . Heldenmut wird nicht zuschanden . . . Nur Mut . . . Nur Mut . .“
Aber der alte Kämpfer von 1870 schüttelte den Kahlkopf. Setzte sich schwer nieder. Seufzte hoffnungslos aus tiefster Brust.
„Es ist zu spät!“
„Kopf hoch, Herr Geheimrat!“
„Es ist zu spät! Es war ein Heldenmut durch diese vier Jahre, draussen bei uns und drinnen, wie ihn noch kein Volk gezeigt hat, seitdem die Welt steht. Es ist heute noch ein Heldenmut draussen, noch in dieser Stunde, noch jetzt, in dieser Minute, dessen ganze Grösse erst die kommenden Geschlechter begreifen und vor dem sie in Ehrfurcht stehen werden. Aber es hilft nichts mehr. Wir können nicht mehr . . .“
Und nach einer Pause, mit gesenktem Haupt: „Wir können nicht mehr . . . Wir können nicht mehr . . . Machen Sie mir nicht das Herz noch schwerer, Herr Lotheisen! Sie kommen von ausserhalb. Sie wissen nicht, wie es bei uns steht und wie es in uns steht! Wir sind am Ende!“
Dann schaute der Geheime Justizrat auf und forschte müde, trocken, geschäftsmässig: „Und was führt Sie zu mir, Herr Lotheisen?“
Bruno Lotheisen hatte sich, immer noch schweratmend, im Sessel gegenüber niedergelassen. Er forschte unvermittelt, rauh, mit trockener Kehle:
„Bin ich eigentlich schon amtlich für tot erklärt?“
„Für tot erklärt . . .?“ Der alte Rechtsberater sammelte mühsam, immer noch halb geistesabwesend, seine Gedanken: „Warten Sie einmal: . . . Nein!“
„Meine Frau hat auch noch keinerlei Schritte dazu getan?“
,,Ihre Gattin? . . . Dass ich nicht wüsste . . . Nur — wie ist mir denn? . . . Ja . . . Der Generaldirektor Lütjens.“
„Mein Schwiegervater . . .“
„Der hat mich in Ihren Angelegenheiten aufgesucht! Wie lange kann es denn her sein? Vielleicht acht Wochen. Ich weiss nicht genau. Jeder Tag ist ja jetzt ein Jahr.“
„Was wollte er?“
„Der Herr Generaldirektor kam von Köln herüber. Er sah damals schon sehr schwarz in die Zukunft, wie wahrscheinlich auch die anderen rheinischen Grossindustriellen alle. Er meinte, lange ginge es nicht mehr. Und gleich nach Friedensschluss müsse in Gottes Namen Ihre Verschollenheitserklärung betrieben werden! Er sei das seiner Tochter schuldig. Sie könne nicht ewig in der ungewissen Stellung bleiben, dass sie verheiratet sei und dabei doch Witwe.“
„Seitdem ist noch nichts erfolgt?“
„Nichts mehr!“
„Also ich lebe vorläufig noch?“
„Sie leben, Herr Lotheisen!“
Durch die erschöpfte Stimme des Justizrats klang ein hoffnungsloses: Es ist ja ganz gleichgültig, ob du noch lebst . . . oder ich . . . An der Wand über ihm hing das Bild des alten Kaisers Wilhelm, um diesen das Kleeblatt seiner Paladine: Bismarck, Moltke, Roon. Gegenüber, über dem Kronprinzen Fritz, zwei Gegenstücke: Die Kaiserproklamation von Versailles und der Einzug in Paris. Bruno Lotheisen stand leise auf, wie um einen Kranken nicht zu stören. Er reichte dem Rechtsanwalt stumm die Hand. Er ging zur Tür. Dort blickte er noch einmal zurück. Der fahle Graukopf drüben lag auf der Tischplatte. Der alte Preusse glaubte sich im Zimmer allein. Er schluchzte bitterlich. Er stöhnte vor sich hin: „Mein Preussen! . . . Mein Preussen!“ Er weinte nicht um das noch nicht fünfzigjährige Reich, das er selbst mit hatte gründen helfen. Er weinte um das halbe Jahrtausend des Staats der Hohenzollern, um den Grossen Kurfürsten und den Soldatenkönig und den Alten Fritz und den alten Wilhelm . . .
Jetzt erst trat Bruno Lotheisen draussen vor dem Haus in die Wirklichkeit der Dinge hinaus. Jetzt erst erfüllte ihn das Bewusstsein des ungeheuren Geschehens des heutigen Tags. Ein Lastauto donnerte vorbei. Ein Massenruf: „Es lebe die Internationale!“ Ein gläubiges Jauchzen. Eine strahlende, ehrliche Begeisterung. Eine aus dem tiefsten Innern kommende deutsche Zuversicht auf das, was in der ganzen Welt gut und recht war und gut und recht bleiben musste, auf das Beste und Mildeste im Menschen.
Eine junge, blonde Strassenbahn-Schaffnerin winkte fröh ich hinterher. Sie hatte eine Schere und trennte gerade einem Soldaten die Achselklappen ab. Sie hatte diesen Liebesdienst schon vielen erwiesen und die Achselklappen in ihrer umgehängten Geldtasche gesammelt. Sie schlug harmlos mit der Hand auf die Tasche, öffnete sie und zeigte den Inhalt den Umstehenden: „Da hab’ ick schon die halbe Armee beisammen!“
Auch Bruno Lotheisen sah die grauen Achselklappen übereinander, die Nummern und die Namenszüge — jedes ein tuchenes Stück preussische Geschichte: Die Trompeten von Fehrbellin, die Attackensignale von Rossbach, der Choral von Leuthen, Lützows wilde, verwegene Jagd, der Piefkemarsch von Düppel, die Garde bei Chlum, der Todesritt von Marsla-Tour, bis zu der stummen, grauen, riesigen, jedes Mass der Vergangenheit überragenden Grösse der letzten Jahre — das alles wehte ein Sturm der Zeit dahin. Die Achselklappen flatterten, blätterten sich wie Herbstlaub in der abgenutzten Ledertasche einer jungen Schaffnersfrau.
Der Kirchenbauer Lotheisen ging die Friedrichstrasse entlang. In deren Gewimmel tauchten jetzt schon die ersten freigewordenen, feindlichen Kriegsgefangenen auf. Russen. Sie schlenderten noch halb verlegen dahin. Grinsten ihn vertraulich an. Hielten ihn, in der schwarzen Lammfellmütze und den hohen Transtiefeln, für ihren Landsmann.
Читать дальше