Lonnys Mädchen hatte ihren Gästen das Tor aufgesperrt. Im selben Augenblick schob sich von aussen ein hoher Transtiefel durch den Spalt. Eine wirrmähnige Gestalt in Fellmütze, Schafpelz, rotem Schal zwängte sich hinterher, trat, an den entsetzt zurückgeprallten Damen vorbei, hart vor Werner Grimm hin, keuchte zwischen den zusammengebissenen Zähnen, aus dem blonden Gewucher des Vollbarts heraus, ihn an: „Wer sind Sie?“
„Um Gottes willen — nehmen Sie sich in acht!“ schrie die Hauptmannswitwe. Und die andere: „Er tut Ihnen ein Leid an!“
Werner Grimm blieb äusserst kühl. Er musterte fragend sein Gegenüber.
„Wer sind Sie, Verehrtester?“
„Ihren Namen will ich wissen!“
„Ich fürchte,“ sagte Werner Grimm gleichmütig, „Sie teilen den bei uns weit verbreiteten Irrtum, dass schlechte Manieren ein Zeichen des Fortschrittes sind! . . . Warum interessiert es Sie eigentlich, meine Bekanntschaft zu machen, oder . . .“ Er hielt inne und fuhr langsamer, mit einem zögernden, forschenden Blick auf den anderen fort: „. . . oder, scheint mir jetzt . . . oder zu erneuern . . . Es kommt mir plötzlich so vor, als hätten wir uns schon mal irgendwo gesehen . . .“
„Das weiss ich schon seit heute mittag . . .“ sprach der ihm gegenüber dumpf, mit verstörten, grossen blauen Augen, „dass wir uns irgendwo gesehen haben . . .“
,,Vielleicht im Feld?“ schlug Werner Grimm mit gleichmässiger Höflichkeit vor. Eine jähe Bewegung des Schreckens drüben. Eine Hand, wie zur Abwehr erhoben. Ein Stammeln.
„Trugen Sie nicht Ulanenuniform?“
„Gewiss . . .“
„. . . und führten eine Infanterie-Kompagnie — im ersten Kriegsjahr . . .“
„Stimmt!“
„. . . und machten bei Punkt 507 in den Argonnen einen Gegenstoss — spät abends — im August . .?“
„Herrgott ja: Der Infanterie-Hauptmann ganz da vorn im Wurstkessel — abgeschnitten — mit dem Rest seiner Leute . . . Aber damals waren Sie glattrasiert . . .“
„Ich war es doch“, sagte Bruno Lotheisen langsam, halb geistesabwesend. „Es war eine aufopfernde Leistung von Ihnen . . . Sie haben mir und was von meinen Leuten noch lebte, das Leben gerettet . . .“
,,Na — mindestens die Freiheit! . . . Übrigens: Meine letzte kriegerische Leistung. Acht Tage darauf machte eine Franzosenkugel bei mir endgültig Schluss.“
Werner Grimm schlug sich leicht mit der Rechten an das steife Hüftgelenk und streckte sie dann weltmännisch, kameradschaftlich dem anderen hin.
„Na — daraufhin können wir uns ja vertragen und einander vorstellen! Damals riss uns ja das Kriegsgetümmel gleich wieder auseinander.“
Aber zu seinem Erstaunen trat der andere taumelnd ein paar Schritte zurück. Starrte ihn aus entgeisterten Augen an. Wollte etwas sagen. Konnte es nicht, sondern wandte sich ab, schüttelte den buschigen Kopf, ballte die
Fäuste, stieg mühsam, schwer die Stiege des Treppenhauses empor.
„Vielleicht verschüttet gewesen oder sowas“, sprach Werner Grimm halblaut zu den Damen. Er horchte. Nickte. Nun waren die Tritte schon im zweiten Stock. Im dritten. Verhallten. „Ich wollte bloss sicher sein, dass er nicht etwa Frau Lona heimsucht“, sagte er, auf die Strasse hinaustretend, zu den beiden Damen. „Aber er hat offenbar Bekannte weiter oben im Haus.“
Lonnys Mädchen schloss das Tor hinter den Dreien und schoss verängstigt die Treppenstufen empor. Es war ihr mit Todesschrecken eingefallen, dass sie die Flurtür angelehnt gelassen hatte. Atemlos kam sie auf dem Stiegenabsatz an, eben noch zurecht, um die Tür sich bewegen zu sehen, als sei gerade jemand eingetreten. Sie stürzte hinterher in die Diele. Stand dem aus dem oberen Stockwerk wieder herabgestiegenen Mann aus dem Osten gegenüber. Die Angst verschlug ihr den Atem. Sie konnte kaum, mit offenem Mund, stammeln: „Was . . . was wollen Sie denn hier?“
Der Fremde machte ihr ruhig mit der Hand eine Bewegung, zu schweigen. Durch die Salontür hörte er die helle, laute Stimme seiner Frau. Sie telephonierte gerade wieder mit einer Freundin.
„Dein Mann ist eben aus Mazedonien zurück? Du Glückliche! . . . Wie sieht’s denn auf dem Balkan aus? Grässlich? . . . Ach du lieber Gott! . . . Nein: Der Karl ist Gott sei Dank nicht in Palästina — dort geht ja auch alles koppheister — er ist in Tiflis . . .“
Bruno Lotheisen legte finster Mantel und Mütze ab. Hing sie nach alter Gewohnheit, wie vor Jahren, an den Kleiderhaken. Das Mädchen beobachtete verstört den Fremden, der so tat, als sei er hier zu Hause. Innen telephonierte Lonny: „Kurt? . . . Kurt hat zuletzt vor vier Wochen aus Kiew Tee geschickt! Seitdem keine Silbe mehr. Sein Bruder ist auf einem Torpedoboot mit seinen sächsischen Reitern über die Ostsee mitten durchs Treibeis nach Finnland. Es soll eine tolle Schunkelei gewesen sein . . .“
„Melden Sie mich der gnädigen Frau!“
„Ja, wen denn?“
Aus dem Salon klang Lonnys klare, lebhafte Stimme:
„Ja, nicht wahr? . . . Nein — den Adalbert kriegten sie nicht! Er hat sich immer wieder mit seinem U-Boot in seinem Versteck am Ufer von Kreta verkrümelt und sich dazwischen an der marokkanischen Küste Benzin geholt. Nachher ist er ganz da hinauf . . . ins Nördliche Eismeer . . . Du . . . Rede um Gottes willen nicht vom heutigen Tag und von Politik. Alle Gespräche werden überwacht.“
„Sagen Sie der gnädigen Frau, ihr Mann stände draussen!“
„Wer“
„Ihr Mann!“
Innen Lonny schnell, heiter: „Der Max? Na — den Vorsichtsrat kennst du ja! Der gedieh in der Etappe in der Lombardei.“ Dann plötzlich mit tieferer Stimme, erschrocken: „Der dritte jetzt auch als Fahnenjunker in Flandern gefallen? Die armen Eltern! Alle Söhne tot!“
Noch einmal entrollte sich, in den hellen Worten einer jungen Frau da nebenan, das riesenhafte Bild des erlöschenden Weltbrands. Über Bruno Lotheisen lief ein Schauer von Ehrfurcht vor den in der Geschichte aller Zeiten unerhörten Leistungen eines Volks, seines deutschen Volks. In ihm wallte noch einmal stürmisch das Kriegerblut. Verebbte. Lonnys letztes Wort klang in seinem Ohr, klar und laut: ,Tot’. Er wandte sich zu dem Mädchen: „Sagen Sie der gnädigen Frau, hier aussen stände ein toter Mann!“
Das Mädchen sah ihn verdutzt und ängstlich an. Sie ging in das Zimmer. Lonny hatte dort eben den Hörer angehängt.
„Gnädige Frau: Draussen steht ein Mann. Oder ein Herr. „Ich hab’s in der Aufregung vergessen zu melden: Er war schon heute nachmittag einmal da! Er sagt, er wäre tot.“
,,Was?“
„Aber ich glaube, er ist von der neuen Rejierung!“
„Heulen Sie nicht, Minna, das ist kindisch!“
„Ick habe unsern halben Topf Gänseschmalz schon verstecket! Und die zwei Eier auch! Sonst haben wir doch nischt!“
„Na eben! Ich hungere heute schon den ganzen Tag wieder einmal fürs Vaterland! Also der Mann draussen . .“
„Gnädige Frau: Er spricht, er wär’ Ihr Mann!“
„Wie?“
„Ihr Mann!“
,,Minna, Sie sind wohl unklug!“ Lonny Lotheisen warf unwillkürlich einen Blick auf die schwarzumrahmte Photographie ihres Gatten auf dem Mitteltisch. Das Bild zeigte ihn in Feldgrau mit dem leinwandüberzogenen Helm auf dem Haupt, das frische, freimütige Künstlerantlitz glatt rasiert, so dass der Ausdruck heiterer Lebens- und Schaffensfreude um den feinen, weichen Mund sonnig hervortrat. Am Nasenflügel die kleine Narbe des Schmisses aus der Studentenzeit. Die junge Frau schüttelte, plötzlich blass geworden, den Kopf. Wurde wieder ruhig.
„Ein Mann wird er natürlich gesagt haben, Minna! . . . Nun: Ich geh’ in Gottesnamen zu ihm ’raus.“
Das Mädchen war im Zimmer geblieben. Sie sprang plötzlich zur Tür. Sie fing ihre zurücktaumelnde Herrin auf. Die schwankte in den Knien, streckte beide Arme weit aus — man sah nicht, ob zur Abwehr, ob zum Empfang — hatte die Augen weit, ungläubig aufgerissen. Stammelte: „Nein . . . nein . . .“
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