„Machen Sie keine schlechten Witze. Rein! Bitte einsteigen, Fräulein.“
Michel tanzte auf seinen dünnen Beinen, machte siebenundzwanzig Sprüche, lüftete endlich den Hut und ging mit einem spöttischen „Salaam!“ davon. Dareen sah ihm misstrauisch nach. Der Tag kam schon ... „So, meine Verehrte, wohin, bitte?“
Isabel wohnte in einer sehr östlichen Strasse. „Ich halte Sie aber viel zu lange auf. Sie sind müde, Herr Dareen.“
„Müde — Dareen!“ lachte er und tippte sich an die Stirn. „Haben Sie das schon einmal erlebt?“ Es war richtig, Dareen arbeitete schonungslos, aber er prahlte gern ein wenig mit seiner Widerstandsfähigkeit. „Aber wo sind Sie zu Hause? — Ach, verehrtes Fräulein, in der Gegend habe ich auch angefangen.“ Er beugte sich rückwärts und holte aus dem Innern des offenen Wagens eine Lederjacke heraus. „Das ist weit, ziehen Sie, bitte, an.“
Am Potsdamer Platz, den sie überqueren wollten, wurden sie eine knappe Viertelstunde angehalten, da der Platz von Arbeiterkolonnen überschwemmt war. Elektrische Lampen gleissten. Pechfunzeln flackerten. Es wurde wieder einmal gebuddelt, gehackt; der Asphalt wurde weggerissen und durch solide Pflastersteine ersetzt; der alte Verkehrsturm wurde abgebrochen, einige Meter zur Seite entstand ein neuer, doppelt so grosser. Der ganze Platz wurde im Viereck und über Kreuz untertunnelt — und oben in der Luft wurden quer vor jeder der vier Hauptstrassen riesige Signalanlagen aufgebaut und ausprobiert: sie zeigten fünf verschiedene Lichtzeichen, die einzeln, paarweis oder alle zusammen verschiedene Bedeutungen hatten. Darunter hingen schon über die ganze Strassenbreite ungeheure Schilder, welche Warnungen und Befehle ausschrien: „Fahren Sie vorsichtig!“ „Beeilen Sie sich!“ „Für Fussgänger sicherer Tod!“ „Höchstgeschwindigkeit 60 Kilometer!“
So wollte es die neue Ordnung des Verkehrs ...
„Sie bemerken: Berlin ist noch nicht fertig“, meinte Isabel mit einer munteren Geste.
Dareen sah sie von der Seite an. Bei diesem mal schweigsamen, mal übermütigen Mädchen wusste man nie, was dahintersteckte. „Wohnen Sie schon lange in der Gegend?“ fragte er vorsichtig.
„Schon ziemlich lange“, gab sie ausweichend zurück, und er merkte wohl, dass sie sich nicht ausfragen lassen wollte. Aber er hatte den Wunsch, ihr etwas Freundliches zu sagen. „Ich muss mich noch bedanken, Fräulein Gynthenburg. Kaum bin ich von der Reise zurück, da sind die Aufnahmen schon sauber geklebt. Sie haben sich kein einziges Mal vergriffen, und der Film ist auch nie gerissen. Also schönen Dank.“
„Es freut mich, wenn Sie mit mir zufrieden sind, Herr Dareen. Man hört es manchmal gerne.“ Das war ein: Merk’s! Denn Dareen lobte fast nie, hatte aber immerfort etwas auszusetzen. Fast keine Klebedame hatte es bei ihm ausgehalten, weil er so oft bis in die frühen Morgenstunden arbeiten liess — und sie war die erste, die ihm die schwierige Arbeit recht machte. Die anderen hatten sich immer geziert, einmal war sogar eine besorgte Mütterlichkeit zu ihm gekommen — es hatte sich aber unglücklicherweise herausgestellt, dass Dareen damals seit vierzehn Tagen von jener Klebedame keine Nachtarbeit gefordert hatte. Fräulein Gynthenburg hatte noch nie nach ihrer Mutter gewimmert, wenn es spät wurde. „Haben Sie Angehörige, die Sie unterstützen müssen?“ fragte er mit einem Blick über ihre ungeschützten Hände, die in der Morgenkühle froren.
„Nein —“ Das klang etwas gedehnt, und Isabel errötete dabei. Er sah, dass sie nicht lügen konnte. Ein Verhältnis? Das hatte er bei ihr am wenigsten erwartet. Sie spürte seine Gedanken. „Ich bin verlobt“, sagte sie kurz, mit einer kleinen Unentschlossenheit.
Es wurde jetzt heller. Dareen entschuldigte sich: „Wurst wider Wurst. Haben Sie irgendwelche Wünsche, bei denen ich Ihnen behilflich sein könnte?“ Sie verneinte. „Was bekommen Sie eigentlich für ein Gehalt, Fräulein?“
„Ich hatte mit meiner Bemerkung vorhin nicht die Absicht, Sie für mein Einkommen zu interessieren.“
„Aber, liebes Fräulein! So meinte ich es auch nicht. — Aber wenn Sie es mir nicht sagen wollen, dann frag’ ich einfach beim Sekretariat an!“
„Achtzig Mark“, lachte sie, schnell gefangen.
„Wöchentlich?“
„O nein — im Monat natürlich.“
Er biss sich auf die Lippen. Und dafür bis vier Uhr nachts im Dienst ... „Das ist ja allerhand“, zwang er beschämt heraus. „Sie sind aber sehr eifrig. Ich werde also mit der Personalabteilung sprechen, dass Sie zwanzig Mark Zulage bekommen, damit die Sache rund wird.“ Und in Gedanken notierte er sich: Nicht vergessen, Fräulein Gynthenburg zwanzig Mark Aufbesserung.
„Das wird Herr Generaldirektor Keriël verbieten!“ spottete Isabel. Er sah sie überrascht und belustigt an, aber sie zeigte schon mit der Hand auf ein entwaffnend hässliches Haus und bat ihn, zu halten.
Die schmutzigen, verkommenen Mauern der Häuser schienen bis in die Wolken zu steigen. Jedes einzelne Haus ein anderer Stil — aber alle geeinigt durch die gleiche gemeine Erfindungslosigkeit der Architektur. „Hier wohnen Sie ...“, sagte Dareen schaudernd und umfing ihre selbst in dem verwaschenen Sommerkleidchen zierliche Gestalt mit seinen Blicken. Es schien ihm heute ganz unwahrscheinlich, dass man hier leben konnte. Im Asphalt zeichnete sich versteinerter Pferdemist ab, und vor den fast überall verschlossenen Fenstern hing grobe Wäsche zum Trocknen. Die stickige Luft der Stuben dahinter glaubte man bis hierhin zu atmen.
„Ein paar Strassen weiter habe ich als kleiner Kunstmaler gelebt —“, flüsterte Dareen mit träumenden Gedanken, so dass sie ihn kaum verstand. „Ich war einer der ersten Expressionisten — darum habe ich eine Villa in Halensee, haha! Aber schliesslich ist mir die Sache zu dumm geworden, und ich sah, dass es eine Lüge war; denn alle konnten es.“
Isabel legte mit einem kühlen Dank die Lederjacke ins Auto zurück und ging ins Haus. Als Dareen zurückfuhr, überlegte er sich eine Weile, was wohl mit dieser kleinen Klebedame los sein könnte. Verlobt? Äh — wohl irgendein Jüngling von der Portokasse — — dann begann das ärmliche Lied: eine winzige Wohnung und Kindergeschrei aus jeder Ecke. Zu schade dafür? I was — es ist keine zu schade. Jeder liegt, wie er sich bettet — —
Ja richtig — sie sollte zwanzig Mark mehr bekommen. Er hielt den Wagen an und schrieb sich’s auf. Ulkig und merkwürdig, diese Spöttelei über den Generaldirektor — es war also überall herum, dass Lydiens Bruder seine Polypennase in jede Kleinigkeit hineinsteckte. Ich mache noch Pleite mit Ihnen, Dareen — Pleite! — Aber die kleine Gynthenburg tat ihm leid mit dieser elenden Bezahlung.
Dann kamen wichtigere Sachen in Dareens Kopf: das neue Manuskript, das W. I. B. Florian gebracht hatte — ein hahnebüchener Quatsch, alles ungelebt und erfunden, ganz „Geist des Films“. Der junge Doktor und Hausdichter des Keriëlfilms hatte nämlich kürzlich eine so benannte Filmtheorie von sich getan, welche auf 180 kriegsstarken Seiten „Neue Wege der Filmkunst“ wies, dass es zum Bauchgrimmen war. Der Poet war aber sehr stolz auf sein Literatenstroh. Er war natürlich der Hauptbezieher seines Buches, welches im übrigen kein Mensch las oder gar kaufte — ausser Lydia Keriël, die den „Geist des Films“ bei jeder Gelegenheit verschenkte, vermutlich weil darin eine zwar eigenartige, aber streng wissenschaftliche Verteidigung des Starsystems enthalten war ...
Und wie immer, wenn er ihren Namen nur dachte, so sah er sie leibhaftig vor sich, sah ihren schnellen, wiegenden Gang. Ob seine gemarterte Vernunft zu jeder Stunde widerstrebte — sein Herz ward wehrlos zu ihr hingerissen. Ah — wenn sie eine Ahnung hätte, wie sehr ihn alles von ihr wegdrängte, wie seine Sinne dennoch zu ihr flatterten!
Читать дальше