Hermann Riedinger schüttelte den Kopf. „Nur ein Glas im Stehen, auf das Wohl unseres jüngsten Doktors. Kinder ... redet nicht ... ich muss wahrhaftig weiter ... ich bin gehetzt heute abend ... gerade heute natürlich ... die Schwester Demut macht sich auch schon fertig zum Gehen. Sie brauchen Ihren Schirm nicht aufzuwickeln, Schwester! Es ist ganz schön draussen geworden!“
Alle schauten nach den Fenstern. Wahrhaftig — da war klarer Nachthimmel und Mondschein. Weithin schimmerten in seinem friedlichen Blau die dürftigen Dächer, die stillen Höfchen, das niedere Häusergewirr der Altstadt, über das der Solitandersche Stammsitz mit seinem hohen, an anno dazumal, vor Jahrhunderten, erinnernden Giebel weit hinausragte.
„Ach ... ist das schön!“ sagte Suse Trautvetter. Sie liebte leidenschaftlich die Heidelberger Mondscheinbummel. Wann sie konnte, verleitete sie ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen zu einer nächtlichen Massenwanderung auf das Schloss. „Heute hat man den ganzen Tag nicht herauskönnen — bei dem Hundewetter! Wenn Sie nett sind, Dr. Riedinger, dann nehmen Sie mich jetzt mit zur Klinik und liefern mich dann nachher wieder hier am Haustor ab. Sie wohnen ja ganz in der Nähe. Es ist für Sie kaum eine Minute Umweg.“ Und ohne erst seine Bejahung abzuwarten, wandte sie sich, ganz erfüllt von ihrer Idee, an die beiden anderen: „Und ihr geht auch mit! Das wird fein! Was?“
„Ich geh’ schlafen!“ versetzte Olga Ritter. Aber Hedwig Solitander nickte. „Da haben Sie ’mal ausnahmsweise eine vernünftige Idee, Suschen!“ sagte sie, „mir brummt der Kopf noch von den zwei Stunden Examen. Wie zerprügelt bin ich. Die kalte Nachtluft wird mir da gut tun.“
Ohne dass sie es wollte, traf dabei ihr Blick auf den Riedingers. Eine Sekunde schauten sich die beiden an. Es war ein Einverständnis: Am heutigen Abend wollten sie nicht so flüchtig, nach ein paar scherzenden Worten unter fremden Menschen, auseinander. Da hatten sie sich mehr zu sagen und unter vier Augen und Ernsteres. Namentlich sie. Er merkte es an dem plötzlich trübe und starr gewordenen Ausdruck ihres Gesichts.
So nahmen sie denn alle von den beiden alten Herren Abschied, die sich noch einmal zusammen hinsetzten und — das wussten sie selbst — in Kurzem über irgend etwas heftig miteinander streiten würden. Denn ein jeder von ihnen hatte seinen eigenen Haufen Steckenpferde und erkannte die des anderen nicht für voll an. Und wenn Gryphius Solitander mit Vorliebe Käfer und Insekten seit vielen Jahren sammelte, interessierte sich der alte Evangelist von Thiengen ebenso brennend für die Geschichte der Kreuzzüge, und es war ihm ebenso unmöglich, die Bedeutung Gottfried von Bouillons und eines frisch auf dem Speyerer Hof gefangenen Hirschkäfers richtig gegeneinander abzuwägen, wie der alte Solitander seinerseits wieder erklärte, jede Kellerassel und jeder lebende Tausendfuss sei interessanter und ästhetisch erfreulicher als ein Dutzend längst vermoderter Bischöfe und Äbtissinnen zusammen.
Und als der kleine Trupp auf die Strasse hinaustrat, hörte man von oben durch das offene Fenster schon einen etwas gereizt werdenden Wortwechsel der beiden greisen Freunde, und die Jungen unten mussten lachen.
Als sich die Gesellschaft in Bewegung setzte, gingen Demut von Behla und die kleine Trautvetter sofort zehn Schritte voraus. Das taten sie aus Diskretion, ohne sich erst miteinander darüber zu verständigen. Sie wollten die beiden anderen allein lassen und gaben ihnen nur die Wegrichtung an: nach rechts, am nahen Neckar entlang. Dort war es schöner und stiller als in der noch vom nächtlichen Studentenleben erfüllten Hauptstrasse.
Am Uferstaden war kein Mensch. Der Mond schien hell. Silbern schimmerten in seinem Licht die kleinen Zitterwellen des Flusses. Darüber glänzte auf der andern Seite undeutlich weiss die lange Reihe der in steilen Gärten eingebetteten Landhäuser und schloss der Heiligenberg als ein riesiger, vor dem Sternenhimmel stehender Schattenriss die Fernsicht ab.
Hedwig und ihr Gefährte gingen langsam — absichtlich langsam. Es war, als scheuten sie sich beide vor dem ersten Wort aus dem Mund des andern.
Endlich sagte Herman Riedinger geflissentlich etwas Alltägliches. Er sah auf die Uhr und meinte: „Eigentlich müsst’ ich mich mehr eilen! Sonst komm’ ich wieder erst Gott weiss wann ins Bett!“
Diese ewige Unruhe kannte Hedwig an ihm. Er äusserte oft selbst, er stände schon morgens um halb sieben mit einer Viertelstunde Verspätung auf und hole sie den ganzen Tag nicht wieder ein. Das war eine Folge seiner übergrossen Praxis. Er war überlaufen von Hilfesuchenden — namentlich auch aus der Umgegend. Die Pfälzer hatten zu ihm, der ihr Landsmann war, der ihre Sprache redete und selbst von kleinen Leuten stammte, ein besonderes Zutrauen.
Stumm gingen Riedinger und Hedwig weiter den Neckar entlang, liessen sich den feuchten Westwind von der Rheinebene her ins Gesicht wehen und sahen die Sterne über ihren Häuptern funkeln. Endlich hub er wieder an: „Na — nun hast du’s ja also erreicht!“
Das war herzlicher als sonst seine Art war, gesprochen. Es lag eine unwillkürliche Anerkennung darin. Aber sie schüttelte den Kopf: „Was hab’ ich denn eigentlich erreicht?“
„Na — dass du Doktor bist! Glücklich von fünf Professoren mit vereinten Kräften promoviert! Nun brauchst du bloss noch fünfhundert Mark für den Druck deiner Dissertation zu spendieren — dann kriegst du die Anerkennung deiner Gelehrsamkeit schwarz auf weiss ins Haus geschickt.“
Sie ging auf seinen scherzenden Ton nicht ein. „Was ist nun eigentlich weiter für ein Unterschied zwischen gestern und heute?“ frug sie. „Wenn ich morgen aufwach’, bin ich genau derselbe Mensch, der ich war. Ich werd’ nicht mehr in die Vorlesungen und Seminare gehen — was ich in letzter Zeit auch schon nicht mehr getan habe — und werd’ die Bücher, in denen ich bis jetzt fünf, sechs Stunden täglich repetiert hab’, in den Schrank zurückstellen. Das ist alles! Auch äusserlich! Denn dass ich nun nicht die Geschmacklosigkeit haben werde, mich überall „Fräulein Doktor“ nennen zu lassen, das wirst du mir ja wohl zutrauen. Das ist eine Privatangelegenheit zwischen mir und der Fakultät gewesen. Im gewöhnlichen Leben mache ich davon keinen Gebrauch.“
„Nun ja — äusserlich, wie du selbst sagst! Aber innerlich! Zum Kuckuck, Hedwig — du wirst doch das Gefühl des Sieges in dir haben! So leicht macht doch heutzutage, trotz allem, ein Frauenzimmer seinen Doktor in Deutschland immer noch nicht! Es gehört doch noch ein ordentlicher Haufen Energie dazu!“
Hedwig Solitander wandte ihm im Gehen ihr Antlitz zu. Das war noch blasser geworden, sein ursprüngliches feines Weiss unter den goldroten Haaren vom Mondlicht noch verstärkt und um den Mund und in den grauen Augen der müde Zug. „Nein — dies Gefühl der vollbrachten Tat hab’ ich eben nicht, Hermann!“ sagte sie. „Ich sah’s kommen — schon lange — schon seit einem Jahr mindestens bin ich mir dessen bewusst geworden. Je näher das Doktorexamen gerückt ist und je mehr ich mich darauf vorbereitet hab’, desto gleichgültiger ist es mir innerlich geworden. Und in letzter Zeit so gleichgültig, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie! Ich hab’ mir nichts anmerken lassen! Das sag’ ich niemandem als dir. Natürlich — man macht sein Examen — man führt doch durch, was man sich einmal vorgenommen hat. Man wird sich doch nicht blamieren, seinen Vater enttäuschen, seine Lehrer blossstellen, also — wie gesagt — selbstverständlich hab’ ich alles daran gesetzt, um mit Anstand durchzukommen, und das ist ja nun heute auch so weit gelungen ...“
Sie brach ab und verstummte und Hermann Riedinger sagte nach einer Weile langsam: „Das wäre alles eher begreiflich, wenn du grosse Schwierigkeiten in deiner Laufbahn zu überwinden gehabt hättest, Hedwig! Da kommt nachher am Ziel der Rückschlag, die nachträgliche Verbitterung, das kenn’ ich! Aber bei dir: Es hat sich dir doch alles immer geebnet. Du stammst aus einer alten Gelehrtenfamilie — dein Vater ist ein Sonderling, der immer das Gegenteil von dem tut, was die andern meinen, also war es ganz natürlich, dass er dich zu den Jungens in das Gymnasium gesteckt hat. Du hast in deiner Vaterstadt dein Abiturium bestanden, hast in deiner Vaterstadt deine sechs Jahre studiert und jetzt ebenda deinen Doktor gemacht — das ist alles wie von selbst gegangen, als ob es so sein müsste — niemand hat sich darüber gewundert. Die Zeit ist doch längst vorbei, wo man eine Studentin für ein Fabelwesen gehalten hat — namentlich hier in Heidelberg — also nun sei doch froh und danke dem Schicksal, dass es mit dir so weit ist und du die Wissenschaft verbrieft und versiegelt in der Tasche hast!“
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