Die zwei jungen Frauen schauten sich ernst in die Augen und beider Augen waren feucht. Und es war plötzlich zwischen ihnen etwas wie dasselbe Schicksal und Leid. Und dann fasste Frau von Helmstorff mit einem raschen Entschluss ihre Hand und drückte sie. „Ich danke Ihnen, Fräulein Solitander!“ sagte sie, während sie sich zum Gehen wandte. „Sie waren so, wie ich gleich von Anfang hätte hoffen sollen! Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen unrecht tat. Aber ich bin unglücklicher, als es jemand ausser uns zu wissen braucht!“
Sie war auf den Flur hinausgetreten. Da draussen hantierte die Baas. In der Ferne klang das Lachen von Suse Trautvetter — hier waren schon überall Menschen — hier begann das Reich der Verstellung und die beiden fügten sich darein und bemühten sich sogar, beim Abschied auf der Schwelle zu lächeln. Aber es gelang ihnen nicht und ihre Stimmen schwankten, während Frau von Helmstorff mit einem nochmaligen Händedruck sagte: „Adieu, Fräulein Solitander!“
Und ebenso, als Hedwig erwiderte: „Adieu, gnädige Frau! Vielen Dank für Ihren Besuch!“
Dann kehrte sie in die Bibliothek zurück — da setzte sie sich hin — unter dem Bild des alten grimmigen Predigers Markus Solitander, der schützend auf sein Enkelkind herabschaute — und ordnete ihre Gedanken. Das ging nicht so schnell. Das alles war so plötzlich gekommen. Sie war ganz überrumpelt. Und wenn sie es sich auch jetzt allmählich klar machte — ein Staunen blieb — eine Verwunderung über sich selbst, dass sie so blind hatte sein können, das gar nicht zu merken! Aber andere hatten es ja auch nicht gesehen — niemand! Das war klar. Denn sonst hätte es längst an Sticheleien und Anspielungen und anonymen Briefen in der Kleinstadt nicht gefehlt. Und das war immerhin ein Trost, dass die ganze Sache sich im geheimen abgespielt hatte und ebenso in nichts verschwand.
Sie stand wieder auf. Es war eine quälende Unruhe in ihr. Drüben an der Wand hing ein grosser alter Spiegel. Vor den stellte sie sich hin und betrachtete sich genau, das feine weisse, schmale Mädchengesicht mit den grossen, grauen Augen, die so kühl und klug wie immer blickten, als ginge sie diese Sache gar nichts an — die schlanke Gestalt — und über alles ausgegossen ein Glanz von oben, der leuchtende Feuerschimmer ihres rotgoldenen, in schweren Flechten die Stirne krönenden Haares. Und nachdenklich, bitter, traurig sagte sie zu sich: Also das bist wieder einmal du — dies Haut und Haar und körperliche Leben. So sehen dich die Menschen — so strömt von dir eine Macht aus — die nicht dein ist — die deinem Willen entzogen — ja die oft ganz unbewusst ist — wie eben jetzt in diesem Fall — und die doch untrennbar mit dir verbunden ist, so dass ihr nach aussen als eines geltet und in Beziehungen zu Menschen, in Wirkungen und Gegenwirkungen geratet, von denen deine Seele, dein eigentliches „Ich“ gar nichts weiss ...
Darin lag für sie das Niederdrückende eines solchen Erlebnisses. Aber allmählich wurde ihr doch wieder frei und leicht zu Sinn. Eigentlich ging sie das ja eben darum gar nichts an — dieser unpersönliche Eindruck auf fremde Augen, der von ihr ausstrahlte, mochte sich mit dem abfinden, wen er traf. Es regte sich in ihr förmlich ein leiser Übermut, ein Triumph, so stark zu sein, ohne dass man es wollte. Und wie seltsam, dass diese Macht sich gerade Helmstorff, den Gönnerhaften, den schönen Mann, den von seiner Gottähnlichkeit Durchdrungenen zum Opfer gewählt hatte ...
Sie schüttelte den Kopf. Es war ihr jetzt auf einmal wieder traurig zu Mut, dass dieser Zwischenfall gekommen und ihr die Stimmung nach dem Examen getrübt hatte. Aber war denn diese Stimmung vorher so rosig gewesen? Das auch nicht! Das hatte sie doch wahrhaftig gestern Abend Hermann Riedinger in aller Deutlichkeit gebeichtet. Man wurde gar nicht mehr klug aus sich selbst. Das wirrte und webte alles durcheinander und eigentlich war doch immer die Leere da. Am besten — man dachte gar nicht mehr daran — dann verlor es sich von selbst. Und damit zuckte Hedwig Solitander die Achseln und ging hinauf in ihr Arbeitszimmer.
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