1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Er blieb stumm. So hub sie wieder an. „Wir stehen uns doch weiss Gott nahe ... so nahe ... in so einem seltsamen Wechselverhältnis von Jugendgemeinsamkeit und von Freundschaft und von ... ich glaube, es gibt gar kein rechtes Wort in der deutschen Sprache, um das alles zusammen zu bezeichnen. Aber gerade, dass ich mich so durch dich bedingt fühle, dass ich so abhängig von dir bin und nicht von dir freikommen kann, das macht dich mir wieder fremd. Es ist immer noch ein Rest in mir — der wehrt sich gegen dich und deine Weltanschauung. Aber mehr als sich wehren kann er nicht. Selbständig schafft er nichts zu Tage. Dazu bin ich zu blutleer durch dich geworden. Bisher hatte ich noch immer, seit meiner Kindheit, seit ich ins Gymnasium gegangen bin, meinen fest geregelten Lebenslauf. Die Vorlesungen, die Seminararbeiten, die Vorbereitung zum Doktor, das hat mich gestützt und aufrecht gehalten, so dass ich wohl nach aussen hin nie bekümmert erschienen bin. Aber von heute ab ist das alles mit einem Schlage weg. Ich steh’ zum ersten Male ganz frei in der Welt und allein und weiss nicht, was ich mit mir anfangen soll, und hab’ an dir keinen Halt, sondern fürchte mich davor. Ich kann dir nicht folgen in deine Welt und selber hab’ ich keine! Ich bin einfach obdachlos und das ist meine Aussicht in die Zukunft. Du kennst mich: ich bin doch gewiss ein sehr kühler und ruhiger Mensch — aber glaub’ mir — am liebsten möcht’ ich mich heute abend noch hinsetzen und weinen, wenn ich denk’, wie leer das nun vor mir ist — und wie verschieden wir beide doch voneinander sind ... und es immer bleiben werden — trotz alledem. ...“
Nun entschloss er sich doch, zu reden — halblaut und mehr, um nicht in seiner unverkennbaren, auf seinem Gesicht sich spiegelnden Betroffenheit durch Schweigen teilnahmslos zu erscheinen, als weil er schon seine Stellung zu ihrer plötzlichen Lebensbeichte genommen hatte. So sprach er nur das nächstliegende: „Aber du musst dir doch irgend ein Bild gemacht haben, was nun kommen soll, Hedwig!“
„Nein!“ sagte sie hart. „Äusserlich natürlich wird sich schon eine Stellung und Tätigkeit für mich finden. Umsonst will ich mich auch nicht abgerackert haben. Aber innerlich ... ich weiss nicht ... ich hab’ nur so ein Gefühl, als müsse alles ganz anders sein —. Und es kommt vielleicht auch einmal anders ... unvermutet ... ehe man es denkt ...“
Sie schaute ihn dabei nicht an. Sie sah geflissentlich zur Seite und in die Höhe. Dort funkelten die Sterne an dem jetzt ganz klaren Nachtfirmament. Und es war, als suche sie da oben mit ihren kühlen grauen Augen die Lösung des grossen Rätsels, das Unbekannte ... das Tröstende ... ein Wunder vom Himmel her ...
Vor ihnen klangen helle jugendliche Stimmen, unterdrücktes Gelächter und halblaute Rufe, und Hermann Riedinger sagte, in den gewöhnlichen Gesprächston zurückfallend: „Komm — wir müssen rascher gehen! Da vorn sind Studenten! ... Dass uns nicht die beiden Damen allein dazwischen kommen!“
Die Strasse vor ihnen lag eine Strecke weit finster. Die jungen Leute hatten, an den Pfählen hochkletternd, das Gas ausgedreht und mit ihren Stöcken die Scheiben eingestossen. Jetzt kamen sie, möglichst geräuschlos auf den Fussspitzen laufend, in einem Trupp heran, zerhauene Kindergesichter unter bunten Mützen, halb verlegen, halb selig über ihre Heldentat und atemlos. Denn irgendwo aus dem Dunkel heraus drohte bereits in Pfälzer Brülltönen die Stimme des Polizeidieners: „Ich kumm’ Ihne! Warte Sie norr! Ich kumm’ Ihne!“ Immerhin hätten sie noch Zeit gefunden, mit den beiden einsam ihnen begegnenden Damen anzubändeln — aber kaum erkannten sie das schwarze Kleid der Krankenschwester, so wichen sie mit einer plötzlichen Scheu der guten Erziehung, die auch die Bierdünste im Hirn nicht zu erschüttern vermochten, zur Seite, und Demut von Behla und Suse Trautvetter, die ihre Kommilitonen übrigens höchst unbefangen und mit freundlichem Interesse ansah, konnten ungehindert passieren.
Gleich darauf holten auch Riedinger und Hedwig sie ein. So lange der Weg finster war, gingen sie alle vier zusammen. Dann gewann das vordere Paar wieder einen kleinen Vorsprung. Der erste Schein einer Gaslaterne hatte ihnen in den düsteren Gesichtern der beiden anderen gezeigt, dass man die besser sich selbst überliess.
Und kaum waren sie halbwegs ausser Hörweite, so sagte der Arzt: „Das sind merkwürdige Dinge, die du mir da erzählst, Hedwig! Ich steh’ auf einmal da wie ein Verbrecher ... und man kann wahrhaftig gar nicht ahnungsloser gewesen sein als ich bis zu diesem Augenblick war. ...“
Sie unterbrach ihn, ganz ruhig, beinahe wieder heiter, nachdem diese Aussprache nun einmal hinter ihr lag. „Du hast gar keine Schuld — ich wiederhole es dir! Und hast niemals den Versuch gemacht, mich mit Absicht in deinen Wesenskreis zu ziehen. Das ist ganz von selber gekommen dadurch, dass wir nebeneinander gewohnt haben und zusammen aufgewachsen sind. Und ändern kannst du dich auch nicht. Du bist aus einem Stück Holz geschnitzt — man muss sich mit dir abfinden — so oder so. So tu du nichts dazu. Sonst wirds nur noch schlimmer. Weisst du: die Macht, die ein Mensch unbewusst über einen ausübt, die erträgt sich immer noch leichter, als wenn er auf einmal befehlen will. Und da ist deine Klinik. Nun geh hinein! Wir warten hier.“
Er bot ihr die Hand zum Abschied, obgleich er doch wusste, dass er sie in wenigen Minuten wiedersehen würde. Aber das war wie ein Zeichen des Dankes, dass sie sich überwunden und ihm so viel von sich gesagt, — ein Zeichen der Freundschaft ... oder auch des Trostes ... der Ermutigung ... und er versetzte: „Hedwig — über das alles müssen wir uns noch ganz ausführlich und in Ruhe aussprechen, in den nächsten Tagen. Ich mach’ mich schon ein paar Stunden irgendwie frei und komm’ zu dir heran. Ich hab’ dir ja auch von mir aus viel zu sagen — sehr viel ... ich hab’ auch damit gewartet bis zu dem Tag heute, wo du einen neuen Lebensabschnitt anfängst.“
Jetzt war gar nichts von Ironie und Schärfe in seinen Zügen — nur tiefer Ernst und eine stumme Frage in seinen Augen — ein Suchen in den ihren, als wolle er ihre letzten, ihm noch versiegelten Gedanken lesen — dann nickte er ihr noch einmal zu und stieg rasch die Treppe hinauf und die Schwester Demut folgte ihm.
Hedwig blieb mit Suse Trautvetter draussen zurück, die viel lieber mit hineingeschlüpft wäre, wie sonst wohl, wenn sie sich mit Riedingers Erlaubnis irgend einen kritischen Fall im Krankensaal dritter Klasse auf den Fussspitzen und mit angehaltenem Atem auf drei Schritte Entfernung ansehen durfte. Für alles, was mit Leiden und Gebresten zusammenhing, hatte sie das unheimliche Interesse ihres künftigen Berufes und war im stande, bei Tisch in ihrem Kompotteller löffelnd die greulichsten Sachen aus dem Seziersaal zu erzählen, ohne dass eine Fiber auf ihrem rotwangigen, ahnungslosen Kindergesichtchen zuckte. Sie war nie mit sich und der Welt zufriedener, als wenn sie recht viele Kranke gesehen hatte, und es verstimmte sie, dass man ihr heute diesen Genuss entzog. Sie langweilte sich auch. Denn Hedwig gab ihr auf alle ihre Fragen nur kurze, halb verlorene und verträumte Antworten. Und so war sie froh, als Riedinger nach kurzem wieder herauskam, mit seinem eigentümlichen, halb ironischen, halb gutmütigen Blick über den Zwicker hinweg, den er meist für seine Mitmenschen übrig hatte, im Dunkel nach den beiden Mädchen suchte und sich zu ihnen gesellte.
Gemeinsam gingen sie nach der Stadt zurück und Suse Trautvetter fing gleich wieder an von einem höchst merkwürdigen Fall aus der Universitätsklinik zu berichten — eine Frau aus der Memeler Gegend — Gott weiss, wie hierher an den Neckar verschlagen — man hoffte bereits, dass das die wirkliche, hier sonst nicht vorkommende Lepra sei. Und diese Möglichkeit, den leibhaftigen Aussatz einmal mit eigenen Augen beobachten zu dürfen, begeisterte die Kleine völlig. Sie betrachtete das wie ein gütiges Geschenk des Schicksals, eine nachträgliche Weihnachtsgabe für fleissige Studentinnen.
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