Hedwig nahm sie und las: „Frau Geheimrat von Helmstorff, geb. Trenkle“, — und sagte, das Blättchen weglegend: „Wie nett von ihr! Das hätt’ ich ihr gar nicht zugetraut! Wahrscheinlich wollte sie mir noch vorher Glück wünschen!“
„Sie hätt’ gedacht, das Examen wäre schon gestern gewesen, hot sie g’sächt!“ berichtete die Baas.
„... Ja — das sollt’s auch eigentlich sein. Es ist erst in letzter Stunde verschoben worden, weil der eine Professor nicht Zeit hatte.“
„... und ’s wär’ ihr halt arg, dass sie da letz gekomme wär’, — und ihre beschte Empfehlung an das Fräulein!“ vollendete die Baas ihre Meldung.
„Nun ja — da war das die Dame vorhin schon! Da ist sie vorhin auf dem Rückweg an der Universität bei uns vorbeigegangen!“ sagte Olga Ritter. „Ich wusste gar nicht, dass Sie bei ihr verkehren!“
„Gott — ich war drei- viermal dort im Haus!“ Hedwig legte den Mantel ab und strich das goldflammende Haar vor dem Spiegel glatt. „Ich hab’ mich durch den alten Trenkle bei seiner Tochter einführen lassen, weil Helmstorff doch einer von meinen Examinatoren war. Sonst hätte mich das bei ihm wenig gelockt. Es ist da immer ein Treiben — Gelehrte aus Indien und Abgeordnete aus Berlin und Amerikanerinnen und eine Wirtschaft wie bei einem kleinen Hof. Und er immer als Mittelpunkt. Da hält er dann Cercle. Zu dumm!“
„Sie haben doch aber auch viel bei ihm belegt gehabt?“ frug Olga Ritter.
„Nur das Privatissimum ... von vier bis sechs. Das musst’ ich ja wohl! Übrigens — er macht es einem nicht schwer ...“
Die Baas war inzwischen schon längst fortgesprungen. Sie hatte einen Hasen in der Küche. Er brozelte schon. O, es war schon alles vorgesehen. Und als die anderen in die Wohnzimmer traten, da ergab es sich, dass durch ein merkwürdiges Spiel des Zufalls gerade heute überall die hohen Kerzenkandelaber aus altem Familiensilber brannten und festlichen Glanz in den wunderlich verschnörkelten, mit uraltem Kram vollgestopften Gemächern verbreiteten, und dass unter dem lebensgrossen Ölbild von Hedwigs Mutter, einer feinen zarten Frau, die auch das herrliche Goldhaar ihrer Tochter besessen, ein grosser Strauss von Veilchen und Farrenwedeln seine süssen Düfte aushauchte, und da und dort ein paar Rosenbüsche seltsam zwischen dem Gelehrtenhausrat schimmerten. Aber der alte Solitander hüstelte wieder, rückte seine lange Pfeife in dem Mund zurecht und sprach vom Wetter. Danken durfte ihm Hedwig nicht, ohne ihn zu verstimmen, so wenig wie für die drei Hundertmarkscheine, die sie, als man sich alsbald zu Tisch setzte, unvermuteterweise in einem Umschlag unter ihrer Serviette fand. Die hatten — nach Gryphius Solitanders weltentrücktem Gesichtsausdruck zu schliessen — wahrscheinlich Heinzelmännchen dorthin gelegt und ebensolche dienstbare Hausgeister die bestaubte Flasche Überrheiner Edelweins aus dem Keller geholt, die der Alte jetzt gleichgültig, als handle es sich um ganz gewöhnlichen Bergsträsser, in die Gläser goss.
Und auch darin zeigte sich das unausgesprochen Feierliche des Abends, dass der Hauptmann a. D. Evangelist von Thiengen anwesend war, der bei keiner besonderen Gelegenheit als Gast fehlen durfte. Denn er war, obwohl um fünfzehn Jahre jünger, der einzige Freund des Hausherrn — ein stiller weissbärtiger kleiner Mann mit guten blauen Augen. Auf dem einen Ohr hörte er ein bisschen schwer. Da war ihm 1870 bei der Belagerung von Strassburg eine Granate zu nahe am Kopfe geplatzt. Zweimal war er verwundet worden. Mit dem eisernen Kreuz kehrte er aus dem Feldzug zurück. Aber dann, nach einigen Jahren, hatte ihn, den nach Herkommen und Erziehung fanatisch katholisch Gesinnten, der Zorn über den beginnenden Kulturkampf, die Einkerkerung des Bischofs Ketteler von Mainz, zu einer öffentlichen Äusserung verleitet — einer Äusserung nicht nur gegen Bismarck, — noch höher hinauf — kurzum: Er tat am besten, dass er am nächsten Morgen still um seinen Abschied einkam. Der wurde ihm denn auch in Ehren gewährt. Seitdem — nun schon ein Menschenalter lang — lebte er zurückgezogen als Mieter und alter Witwer in dem Solitanderschen Haus in der Kapuzinergasse zu Heidelberg, ging jeden Morgen in die Jesuitenkirche zur Messe und jedes Jahr einmal nach Aachen, Trier oder Köln zum allgemeinen Ablass, wie sein Freund, der alte Solitander, in jedem Frühsommer einmal die Festungsgräben von Rastatt aufzusuchen und still, mit blossem Kopfe, ein Stündchen vor den Grabsteinen der dort 1849 standrechtlich erschossenen Freischärler zu stehen pflegte. Das war seine Andacht, so bitter sich auch die beiden alten Herren das ganze liebe lange Jahr hindurch über das gegenseitige Ziel ihrer Wallfahrten zu sticheln und zu zanken und erzürnt und achselzuckend auseinanderzugehen pflegten, um sich am nächsten Tage wieder zu vertragen. Denn darin waren sie doch schliesslich mit ihrem Schicksal eins: sie hatten beide gehofft und mit ihrem Blut betätigt: das Reich komme! Und das Reich war gekommen — aber von Norden her — in Schwarz-Weiss-Rot — so ganz anders, als sie gedacht, so ohne Freude für sie beide ...
Und als man nun bei dem Hasen sass und der Rheinwein seinen kühlen, würzigen Hauch über den Tisch verbreitete, da wurde Gryphius Solitander doch schliesslich seiner inneren Stimmung nicht mehr Herr, sondern sprach, nachdem er lange, in Erinnerung verloren, geschwiegen: „Ja — du hast es gut, Hedwig, meine Tochter! Du bist ein Kind der neuen Zeit. Du hast nur zu lernen, nichts zu vergessen. Drum bist du heute geworden, was dein Vater — als der erste aus einer langen Reihe Solitander vor uns — Zeit seines Lebens nicht geworden ist — ein Doktor der Philosophie zu Heidelberg.“
„Im Zellengefängnis kann man nicht promovieren!“ sagte der alte Evangelist von Thiengen mit vollem Mund. Er liebte Hasenbraten sehr.
„Ganz richtig!“ versetzte der Achtundvierziger neben ihm. Er war froh, dass ihm der Freund in die richtige Bahn geholfen. „Dort haben wir Wolle gespult und gefroren und gehungert — vier Jahre lang in Bruchsal — aber nicht den Cicero traktiert, bis ich dann glücklich ausgebrochen bin und nach Amerika und nach der Amnestie, nach siebzig, zurück. Aber da war’s zu spät, sich noch einmal hinzusetzen und die Studien neu zu beginnen und sich prüfen zu lassen. Ein Freischärler! — Ein Revolutionär! — Haha! da bin ich lieber ein Privatgelehrter geworden und hab’ mir ein Weib genommen und still für mich hingelebt!“
„Und wenn ich nicht wäre, wärest du auch nicht, meine Tochter!“ wandte er sich plötzlich heftig an Hedwig. „Und es gäbe einen neugebackenen Doktor weniger in unserem neugebackenen Reich, das im übrigen Gott segnen möge! Jawohl — viel hat nicht gefehlt, so hätten sie mich damals auch füsiliert. Da hiess es, wie sie Rastatt genommen hatten, die Preussen, jeden Tag unter dem standrechtlichen Protokoll: Dieser Herr Inquisit soll mit Pulver und Blei hingerichtet werden! — Mein Glück war, dass ich so schon, von Waghäusel her, meine Kugel im Leib hatte! Ich war so schon auf dem Tod. Und wie ich schliesslich wieder aufkam, da wehten schon mildere Lüfte — da gab’s schon „Gnade“, lebenslängliches Zuchthaus — haha ...“
Er machte eine Bewegung mit der welken Hand, wie um das alles wegzuscheuchen, und frug dann plötzlich in gewöhnlichem Ton, so als habe man die Zeit über vom Wetter gesprochen: „Wo steckt denn eigentlich Riedinger?“
Und Demut von Behla erklärte wieder: „Er hat einen schweren Fall eingeliefert bekommen. Es handelt sich um ein, zwei Stunden! Hoffentlich bringt er ihn durch!“
„Das tut er doch immer!“ rief Suse Trautvetter überzeugt. Sie bewunderte Riedinger als Arzt, wie das viele und täglich mehr taten.
„Und dabei erklären seine Feinde immer noch seine Methode für unwissenschaftlich!“
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