Eine Enttäuschung war es ihr ja freilich gewesen, als sie ihn beim Herunterkommen aus dem Examenszimmer nicht unter der Gruppe der Wartenden bemerkt hatte. Aber das gestand sie kaum sich ein — geschweige den anderen — und wandte sich an die zu ihrer Linken gehende Olga Ritter, die als Philosophin die einzige war, die etwas von den Einzelheiten des nun glücklich beendeten Frage- und Antwortspiels um den Doktorhut verstand, und erzählte ihr eine Menge Zwischenfälle aus der Prüfung, und wie einmal zu ihrem Glück sogar der alte Trenkle und der andere Examinator des Hauptfachs über ein zweifelhaftes Thema uneinig gewesen seien. Dadurch hätte sie unverhofft viel Zeit gewonnen und lange schweigen dürfen, bis endlich der Dekan zur Sache gebeten habe. Und die anderen, die vorsichtig hinterher durch das halbdunkle, nur spärlich von Laternen erhellte Kapuzinergässchen stiegen, hörten zu und begriffen, so gut sie konnten, und so erreichte die kleine Gesellschaft alsbald die Schwelle des Solitanderschen Hauses.
Das dreistöckige Barockgebäude, in dem Hedwigs Vater wohnte, stand nun gerade zwei Jahrhunderte im Herzen der Altstadt. Die war vor der Einäscherung durch die französischen Mordbrennerbanden eine kleine, vornehme, ein wenig zopfige Residenz gewesen mit Mauern und Zinnen, mit breiten Strassen und Plätzen, mit vielen Klöstern und Edelhöfen der in Pfalz und Neckartal schlossgesessenen Ritterschaft und mit prunkenden Marställen und Kornkammern der kurfürstlichen Haushaltung oben auf dem Schloss. Dann, nach dem Abzug Mélacs, waren die rauchgeschwärzten Trümmer der „Heidelberga deleta“, auf die der Allerchristlichste König auch noch hatte eine Denkmünze prägen lassen, ein Jahrzehnt verödet dagelegen, und als man endlich, verwildert und verstört durch die Not der Zeit, mit dem Wiederaufbau begann, da hatten sich die von oben, aus den Ruinen der gesprengten Türme und ausgebrannten Renaissancepaläste herabgerollten Steintrümmer als willkommenes Material geboten. So hatte auch Äneas Solitander, der Magister der Theologie und Urahn der Familie, sich sein wohlhabendes Heim geschaffen. Ähnliche Bauten erhoben sich umher. Aber kleines Volk, niedere Häuser in planlos gezogenen Linien drängten sich dazwischen. Sie mehrten sich, wie sich die armen Leute mehren, und als um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der Blitzschlag zerstörte, was noch am Schloss oben bewohnbar war, und der Kurfürst und sein Hof nach Mannheim zogen, da war der Übergang Alt-Heidelbergs in ein hässliches, verräuchertes, krummes Gassengewirr entschieden, aus dem die paar vornehmen Häuser von einst, eingeengt, des Lichtes und der Luft beraubt, wie Patrizier zwischen Plebejern in düsterer Massigkeit standen. Es war für sie auch keine Aussicht auf Besserung. Die neue Stadt breitete sich draussen im Westen, in der Rheinebene aus. Der Osten, das Altviertel verödete mehr und mehr.
So waren die vier Mauern beschaffen, in denen Hedwig Solitander vor etwa dreissig Jahren das Licht der Welt erblickt. Noch führten drei breite uralte Stufen zu dem Eingangstor hinauf, über ihm prangte noch in Stein gehauen das Wappen des Landes — nicht der neumodische badische Greif, sondern der springende kurpfälzische Löwe des heiligen Reichs, in der Nische unter dem wie ein Vogelbauer vorspringenden Erkerkämmerchen grüsste immer noch kunstvoll gemeisselt und gestrichen die Madonna und reiche Ornamentik umgab die ausgebauchten Fensterwölbungen des Erdgeschosses. Aber das alles war nur äusserlich. Innen wohnte Alltagsvolk — Handwerker, Kleinhändler in Menge, die wieder ihre Vorderstuben an Studenten, die Hofkammern und Gauben an Schlafburschen weitervermieteten. Andere Parteien fand der alte Solitander nicht. Und Zins einnehmen musste er. Dies Haus war sein einziger Besitz, das Erbteil der alten Humanistenfamilie seit Jahrhunderten.
Das Tor stand noch offen, und als die fünf Mädchen hineingingen, verabschiedete sich Käthchen Butterweck, die gleich im Flur links wohnte. „Also schönen guten Abend, Fräulein Doktor!“ sagte sie unsicher und hielt die Hand hin, und bei den anderen entstand eine Heiterkeit, die etwas von Betroffenheit und dann auch von nachträglicher Rührung und Genugtuung an sich hatte. Zum ersten Male war das Wort „Fräulein Doktor“ gefallen. Auch Hedwig Solitander lachte. „Käthchen, lassen Sie die Dummheiten unterwegs“, sagte sie. „Weh jedem von euch, der mich Doktor nennt! Das gibt’s nicht! Verstanden! Gute Nacht!“
Damit klopfte sie der Kleinen auf die Schulter und stieg mit den beiden Studentinnen, die bei ihr wohnten, und der Krankenschwester die Treppe hinauf. Oben, im dritten Stockwerk, war es lampenhell. Da stand ihr Vater und räusperte sich, wie er sie sah, und tat, gleichgültig zur Seite blickend, als habe er rein durch Zufall eben einmal durch den Türspalt geschaut.
Der alte Achtundvierziger war jetzt schon sehr betagt, seine hohe, magere Gestalt durch die Last von beinahe achtzig Jahren gekrümmt. Ein ganz kleiner, mit spärlichem, schlohweissem Haar und einem zahnbürstenartigen Schnurrbärtchen gezierter Kopf sass darauf. Die Augen waren trübe. Aber Sprache, Bewegungen, alles sonst an Gryphius Solitander strafte sein Greisentum Lügen. Er schrieb seine ungewöhnliche körperliche und geistige Rüstigkeit einem besonderen Umstand zu: seit vielen Jahrzehnten lief er täglich, im Sommer und Winter, bei Wind und Wetter, Nachmittags die zweitausend Fuss auf den Königstuhl hinauf, trank oben Kaffee und trabte wieder zurück, mit seinen langen, dünnen Beinen wie mit Siebenmeilenstiefeln ausgreifend.
Hedwig hatte ihm nicht gesagt, dass sie heute ihr Doktorexamen machen würde. Das liess sich leicht geheim halten, zumal gegenüber dem alten, weltfremden Sonderling, der geflissentlich, mit beinahe krankhaftem Eigensinn, jeden Verkehr mit der Universität vermied. Nun war sie gespannt, wie er sich dazu verhalten würde. Sie wusste schon: er machte alles anders als andere Leute.
Und wirklich hatte der alte Solitander sich schon seine Taktik zurechtgelegt. Er tat gar nichts derart — ganz gleichgültig — als ginge ihn, der sich nie um den Studienplan seiner Tochter gekümmert, sondern sie ruhig hatte in die Vorlesungen wandern lassen, die Geschichte gar nichts an.
„Guten Abend, meine Damen!“ sagte er mit seiner auffallend hellen, ein wenig weinerlichen Stimme. „Was schleppst du denn da für Blumen und Grünzeug, Kind?“
„Ich hab’ eben meinen Doktor gemacht, Papa!“
„So, so,“ meinte der Alte trocken, rieb sich die Hände und schrie dann in den Flur zurück: „Baas, Sie haben recht! Die Hedwig hat ihren Doktor gemacht.“
Daraufhin erschien eiligst die Baas, wie die alte Wirtschafterin allgemein genannt wurde, die seit einem Vierteljahrhundert — seit Hedwigs Mutter noch ganz jung gestorben — im Hause das Pantoffelregiment führte, trocknete sich die Hände an der Schürze und brach in einen frohlockenden Redeschwall aus. „Oh mei! Oh mei awwer ich hab’s mir gedenkt — wie die Fräule Hedwig gesagt hot, die grüne Einsätze aus dem schwarzen Kleid gehörte ’rausgetrennt — und ich dagegen geredd: die Einsätze sin doch grad schön! Und sie wieder: Das verschteht sie net, Baas! Das Kleid muss ganz schwarz werre, so wie wenn e Herr e Frack anzieht! .. No — do haww’ ich gemerkt: Alleweil kummt’s! Und wie sie sich heut noch hot um sechs Uhr Nachmittags extra schtarke schwarze Kaffee mache losse und als gegähnt und auf und ab geloffe im Zimmer ... lasse Sie sich ’mal angucke, Fräule Hedwig ... Sie schaue aus wie vorher ...“
„Na natürlich!“ sagte Hedwig ziemlich grob und lachend. „Was soll ich denn sonst für ein Gesicht machen! Baas! Keine Volksreden mehr! Es ist genug der Rührung! Schau sie lieber, dass wir bald was zu essen kriegen! Jetzt hab’ ich Hunger. Und die Damen vermutlich auch!“ Das hoffte die Baas, die sich allmählich von ihrer Aufregung erholte! Aber halt! ehe sie’s vergass! Vorhin war eine Dame dagewesen. Die hatte Fräulein Hedwig besuchen wollen. Da war die Karte.
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