Das waren starke Worte, aber Erhard war tief besorgt. Er fürchtete eine Weichenstellung, die den Wohlstandszug auf ein gefährliches Gleis bringen könnte. Tatsächlich fürchtete er bereits damals, dass der materielle Konsum zu einer ideellen Verarmung führen, der soziale Sicherungen garantierende Staat zum Wohlfahrts- und Gefälligkeitsstaat verkommen könne, als er schrieb: »Es mag Ihnen merkwürdig vorkommen, wenn ich als Wirtschaftsminister wünschen möchte, daß die nächsten Wahlen nicht um die Frage materiellen Wohlstands, sondern um höherer und entscheidender Dinge willen geführt werden … Kurz gesagt, ich möchte Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, dazu ermuntern, eine ernste und offene Sprache zu führen, und ich bin gewiß, das deutsche Volk wird Sie hören und Ihnen folgen … In treuer Verbundenheit, Ihr Ludwig Erhard«.
Bis in die Schlussformel hinein versuchte Erhard, seinem eindringlichen Appell an den Kanzler Nachdruck zu verleihen. Treue und Verbundenheit mit ihm hebt er wie einst schon gegenüber Vershofen hervor. Aber gibt es einseitige Treue, einseitige Verbundenheit? Nein, hier wurde – und das ist für Ludwig Erhard ganz charakteristisch – an ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis erinnert. Wie der Lehensherr im Mittelalter seinem getreuen Vasallen in der Fehde zur Seite stand, eben nicht allein der umgekehrte Fall die Regel war, sollte auch der Bundeskanzler seinem getreuesten Bannerträger im Kampf gegen die verschiedenen Interessengruppen zur Seite stehen. Aber Erhards Sorgen wuchsen, ohne dass der Kanzler reagierte, obwohl solche Überlegungen Konrad Adenauer damals wie später selbst beschäftigten. 221956 konnte er sich allerdings nicht entschließen, seinen Wirtschaftsminister nachhaltig zu unterstützen. Wem sollte er glauben? Die Industrie spielte die Preiserhöhungen herunter, verharmloste die Entwicklung. Und neigte Erhard hier nicht tatsächlich zu einer unangebrachten Dramatisierung?
Die gute konjunkturelle Lage bot nämlich auch Chancen. Die Steuereinnahmen stiegen beträchtlich, damit natürlich auch der finanzielle Spielraum des Staates. Das sah Adenauer vermutlich sofort. Er wusste, wie wichtig das vor Wahlen sein konnte. Ohnehin hatte Finanzminister Schäffer fleißig die jährlichen Kassenüberschüsse zu einem ansehnlichen staatlichen Schatz zusammengetragen, der 1956 beachtliche sieben Milliarden umfasste und in Anlehnung an den Lagerungsort der französischen Kriegsentschädigungen nach den Kämpfen von 1870/71 im Turm der Spandauer Zitadelle »Juliusturm« genannt wurde. 23Aus diesem »Juliusturm« und den zu erwartenden künftigen Steuermehreinnahmen würden sich endlich jene Reformen finanzieren lassen, auf die die unterschiedlichsten sozialen Gruppen, etwa die Vertreter der Landwirte, der Kriegsopferverbände, der Rentner, seit Jahren drängten. Schon war in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Kommission von 18 Bundestagsabgeordneten am Werk, die Verteilung dieser Gelder vorzubereiten. Weil es sich dabei größtenteils um kaum verhüllte Wahlgeschenke handeln würde, bekam der Ausschuss rasch den passenden Spitznamen: »Kuchenausschuss«. 24All dies mag erklären, warum der Bundeskanzler zögerte, in den Wirtschaftsablauf einzugreifen.
Erhard, Schäffer und Vocke handelten daher im Alleingang – zumindest beinahe. Die Bank deutscher Länder erhöhte am 8. März 1956 den Diskontsatz um einen weiteren Prozentpunkt auf 4,5 Prozent. Damit wurde der Versuch unternommen, die Nachfrage erneut zu beschneiden, die Geldmenge noch stärker zu beschränken und vor allem die Refinanzierungskredite für die Banken nochmals zu verteuern. Das sollte diese veranlassen, durch eigene Zinserhöhungen Kredite unattraktiver zu machen und so den Boom zu bremsen. 25Im Kabinett war diese Maßnahme diskutiert worden. Sie konnte den Kanzler keinesfalls überraschen, zumal Erhard ihm vor der Kabinettsitzung am 14. März 1956 schriftlich mitgeteilt hatte, dass er die neuerliche Erhöhung des Diskontsatzes »nicht nur für richtig, sondern für unbedingt notwendig gehalten« habe. Die Wirkung sei »unter dem Gesichtspunkt der Konjunkturpolitik vor allen Dingen psychologischer Natur«. 26
Umso erstaunlicher war es, dass Adenauer kurz vor seiner Abreise nach Ascona, wo er sich im Hotel Monte Verità erholen und auf den Stuttgarter CDU-Parteitag vorbereiten wollte, zu einer scharfen Attacke gegen seinen Wirtschaftsminister ansetzte. Er schickte ihm am 17. und 21. März 1956 zwei Briefe, die eine ganze Reihe gravierender Kritikpunkte, dagegen kaum Anzeichen für eine intakte Kommunikation enthielten. Vor allem das Schreiben vom 21. März sollte Erhard an die Endphase seiner Zusammenarbeit mit Vershofen und dessen Vorwürfe erinnern – und ihn tief kränken. Nachdem der Kanzler einleitend gebeten hatte, ihm »ein ganz offenes Wort nicht übel zu nehmen«, schrieb er:
»Sie wissen, wie sehr ich Ihren Mut und die Überzeugungskraft geschätzt habe, die Sie an den Tag gelegt haben, als Sie in konsequenter Weise sich gegen die Planwirtschaft gewandt haben. Ich habe aber den Eindruck, als wenn die Gefahren, die in einer andauernden Hochkonjunktur liegen, und die Professor Röpke in einer Artikelserie in der Neuen Zürcher Zeitung … kennzeichnet, von Ihrem Ministerium nicht rechtzeitig genug erkannt worden seien. Ich bin der Auffassung, dass Sie, sehr verehrter Herr Erhard, nicht so viel reisen sollten. Sie müssen sich unter allen Umständen mehr Ihrem Ministerium widmen, und zwar umso mehr, als Herr Staatssekretär Westrick auf Grund seiner ganzen Herkunft naturgemäß keinen Überblick haben kann über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen … Ich bin überhaupt der Auffassung, daß eine rigorose Nachprüfung der Besetzung der Ministerialdirektorenstellen im Hinblick auf die schwierigen wirtschaftlichen Probleme, die sich zeigen, absolut notwendig ist … Ich bin so deprimiert über die mangelnde Verbindung zwischen dem Wirtschaftsministerium einerseits und der Bank deutscher Länder und dem Präsident des Zentralbankrates [Karl Bernard] andererseits bei der wirtschaftspolitischen Entwicklung … daß sich mir die Frage stellt, ob ich nicht falsch gehandelt habe, als ich damals die Behandlung des Bankwesens Ihrem Ministerium übertrug …« 27
Ein Brief, der nicht nur verletzend, sondern auch bedrohlich wirkte. Nach einem sparsamen Lob zu Beginn nur noch Kritik. Im ersten Teil eher lächerlicher Art. Es mutet schon etwas seltsam an, dass der Kanzler sich über das Bundeswirtschaftsministerium beschwerte, das für die Gefahren der Hochkonjunktur keinen Blick gehabt habe – wo sich doch dessen Chef seit Monaten bemühte, Schritte zu einer Stabilisierung und Dämpfung durchzusetzen. Und was sollte der Hinweis auf den Genfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Wilhelm Röpke und seine Serie in der Neuen Zürcher Zeitung bedeuten? 28Was dort stand, hatte Erhard ja in eigenen Worten ausgedrückt, sogar schon viel zeitiger. Wurde das nun richtiger, weil es ein berühmter deutscher Emigrant in einer für den Kanzler maßgeblichen Zeitung ausführte?
Mit Röpke fühlte sich Erhard völlig einig, vertraten sie doch beide neoliberale Positionen. Röpke, Hayek und Eucken hatten bereits ein Jahr nach dem marktwirtschaftlichen Urknall Ende 1949 Erhards Aufnahme in die hoch renommierte Mont Pèlerin-Gesellschaft am Genfer See bewirkt, wofür sich das Neumitglied unter den – dem Namen des Berges entsprechend – neoliberalen Pilgern am 13. Februar 1950 hocherfreut bei Eucken bedankt und erklärt hatte, dass es diese Mitgliedschaft »als eine besondere Ehre und Auszeichnung betrachte und selbstverständlich die Mitgliedschaft annehme«. 29Die Aufnahme in diesen von Friedrich August von Hayek 1947 begründeten illustren Zirkel von Akademikern, Geschäftsleuten und Journalisten zur Revitalisierung wirtschaftsliberaler Grundprinzipien dürfte Erhard tatsächlich gefreut haben. Aber dass Adenauer auf Röpkes Rat hörte, ihn sogar der CDU auf dem Stuttgarter Parteitag als Vordenker empfahl 30, auf Erhards nahezu identische Warnungen dagegen überhaupt nicht einging, wirkte verletzend und entlarvend.
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