Dufhues, dieser Rebell mit Samthandschuhen, der Adenauer in der Endphase der Kanzlerschaft noch viel Ärger bereiten würde, wusste seine Worte klug zu setzen. Er lobte den Kanzler ehrerbietig und gab ihm zugleich unmissverständlich zu verstehen, dass Konflikte innerhalb der Union nicht zwangsläufig im Verborgenen ausgetragen oder stets im Sinne des Vorsitzenden entschieden werden müssten. Erstmals in der Geschichte der CDU-Parteitage war damit von Dufhues das ungeschriebene Gesetz gebrochen worden, »in einer öffentlichen Debatte niemals gegen Adenauer aufzutreten«. 56
Die Rede hinterließ einen tiefen Eindruck – Hans Ulrich Kempski schrieb in seinem Parteitagsbericht in der SZ in Bezug auf Adenauer sogar von »des Widerspenstigen Zähmung«. 57Sie verschaffte Dufhues den Ruf, ein unabhängig denkender, souveräner Mann zu sein, der, ohne persönlichen Ehrgeiz, sich aufrecht für eine Sache schlug; sie trug ihm Respekt ein über Jahre hinaus, ebnete ihm den Weg zum Posten des nordrhein-westfälischen Innenministers, spielte noch 1962 bei seiner Ernennung zum Geschäftsführenden CDU-Vorsitzenden eine Rolle.
Und die Rebellion im Ländle hatte Erfolg, die Delegierten nahmen den Antrag an! Den Namen Dufhues wird man denn auch in den Erinnerungen Adenauers vergeblich suchen. Denn der Parteivorsitzende musste sich damit abfinden, dass zu seinen Stellvertretern Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier und der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Kai-Uwe von Hassel – beide für die evangelische Seite – sowie die Katholiken Karl Arnold und Jakob Kaiser gewählt wurden. 58
Aber nicht nur die Landesverbände oder einzelne Landesfürsten wie Arnold und von Hassel wollten plötzlich ihren Einfluss vergrößern. Auch in Bonn begann sich mancher zu regen, nicht bloß Gerstenmaier und Kaiser. Weil bei einer immer größeren Zahl von Unionspolitikern der Eindruck entstanden war, in der Hauptstadt habe die »Kanzler-Dämmerung« begonnen 59, trachtete jeder danach, sich vor dem allgemein erwarteten Kampf ums Kanzleramt einen möglichst günstigen Startplatz zu sichern. Deshalb gab es ein wachsendes Interesse an der Verbreiterung der Spitzenpositionen – sowohl bei der Parteibasis, die sich eine bessere Auswahlchance versprach, als auch bei den Spitzenpolitikern, die hofften, endlich aus dem Schatten Adenauers herauszutreten.
Spätestens bis zur Bundestagswahl 1957, der man in der Union damals noch mit großer Skepsis und Sorge entgegensah, sollte eine endgültige Entscheidung in der Nachfolgefrage gefallen sein. Adenauers Zeit, so glaubten viele seiner »Parteifreunde«, sei im verflixten siebten Jahr seiner Regierung abgelaufen. Und das hing keineswegs ausschließlich mit seinem labilen Gesundheitszustand zusammen. Hatte er nicht alle seine Ziele in ungewöhnlich kurzer Frist erreicht? Die Bundesrepublik war durch die Pariser Verträge wieder ein – weitgehend – souveräner Staat geworden, als Mitglied der NATO fest in den westlichen Bündniskomplex eingebunden, die Wirtschaft brummte und unterfütterte wirksam politischen Wiederaufstieg und Demokratisierung nach der Diktatur, stellte überdies die Mittel für umfangreiche Wiedergutmachungsleistungen nicht zuletzt an Israel bereit. Die ein Jahrzehnt nach dem großen Krieg bereits erreichte innenpolitische Stabilität versprach zudem diesmal, anders als in den wenigen goldenen Zwanzigerjahren, dauerhaft zu sein.
Was blieb ihm also weiter zu tun? Regierte der Kanzler überhaupt noch – oder reagierte er bloß? In der Frage des Saarlandes hatte er doch ganz offenbar falsch taktiert, war er den Franzosen gegenüber viel zu nachgiebig gewesen. In der Ost- und Deutschlandpolitik würde sich so bald nichts mehr bewegen lassen. Die Wiedervereinigung rückte, allen Sonntagsreden zum Trotz, in immer weitere Ferne, je sichtbarer der Status quo in Europa festgeschrieben wurde. Dabei gab es Schwierigkeiten mit der Wehrgesetzgebung und ihrer Finanzierung, hatte sich außerdem Adenauers Gedankenspielerei mit einer Wahlrechtsänderung, dem sogenannten »Grabenwahlrecht«, als ausgesprochener Bumerang erwiesen. Die davon besonders bedrohten Freien Demokraten, als Koalitionspartner zur Abwehr einer SPD-Regierung in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht einmal unbedingt notwendig, hatten ja eigens deshalb in Düsseldorf verbittert das Bündnis mit der Union gekündigt und sich auf die Seite der Sozialdemokraten geschlagen. In Bonn spaltete sich die FDP in einen Ministerflügel, der aus 16 Abgeordneten bestand und in der Regierung ausharrte, sowie in eine Oppositionsgruppe. Lauter Alarmsignale. 60Wohl nicht ganz zufällig fiel die Krise der Regierung Adenauers im Jahr 1956 mit einer Intensivierung der Nachfolgedebatte, aber auch mit einer heftigen Auseinandersetzung über die Wirtschaftspolitik zusammen, mit einer tiefgreifenden Konfrontation zwischen dem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard.
DIE GÜRZENICH-AFFÄRE – MODELL DER KONFRONTATION
Die Krisenstimmung, die sich in den Jahren 1955 und 1956 in der Bundesrepublik verbreitete, hing nicht allein mit der politischen, sondern besonders mit der wirtschaftlichen Lage zusammen. Im Rückblick erscheint das vollkommen unbegreiflich. Deutschland war zwar weiterhin zweigeteilt, aber die junge westliche Republik hatte 10 Jahre nach dem großen Krieg und der vollständigen Besetzung soeben ihre staatliche Souveränität in weiten Teilen zurückerhalten, auch wenn die Siegermächte sich ihr Interventionsrecht und die Verantwortung für Gesamtdeutschland und Berlin weiterhin vorbehielten. Sie war zeitgleich Mitglied im westlichen Militärbündnis, der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO), geworden und hatte bereits im ökonomischen Bereich, innerhalb der Montanunion, bei der Kohle- und Stahlproduktion mit der Übertragung von Souveränitätsrechten auf eine supranationale, europäische Ebene begonnen. Die wirtschaftlichen Daten jener Zeit signalisierten zudem fast ausnahmslos Erfreuliches: Das Bruttosozialprodukt war 1955 gegenüber dem Vorjahr um 12,1 Prozent gestiegen – eine unglaubliche Veränderung, die später nie wieder zustande kommen sollte. Die Investitionsrate hatte in diesem Jahr ebenfalls ihren Höchststand mit 20,8 Prozent erreicht, die Spareinlagen hatten sich gegenüber 1950 vervierfacht und lagen jetzt bei 20,6 Milliarden D-Mark, die Devisenreserven der Bank deutscher Länder betrugen 13 Milliarden D-Mark. Die Bundesrepublik erreichte Exportüberschüsse wie kein anderes Land Europas, kräftige Lohnsteigerungsraten brachten auch den Arbeitnehmern bedeutende Einkommensverbesserungen, die Vollbeschäftigung war nahezu gewährleistet ,und man hatte nicht nur 12 Millionen Vertriebene eingegliedert, sondern begann schon, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. 1Verhieß das nicht wahrhaft goldene Zeiten, eben tatsächlich »Wohlstand für alle«? 2Wer hätte sich diesen Aufschwung in seinen kühnsten Träumen zehn, ja selbst noch fünf Jahre früher auszumalen gewagt? Das grenzte doch ans Wunderbare, auch wenn Wirtschaftsminister Erhard immer wieder betonte, dass die Entwicklung nichts Irrationales, Unerklärliches an sich habe, sondern auf der konsequenten Übertragung seiner wirtschaftlichen Ordnungsprinzipien auf die gesellschaftspolitische Realität beruhe. 3
Woher rührte dann aber plötzlich die allgemeine Besorgnis? »Die Konjunktur schäumte über«, schrieb rückblickend Hans Herbert Götz, Wirtschaftsjournalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung . 4Man war beunruhigt über die Krisensymptome der Hochkonjunktur. Damit waren vor allem die Preissteigerungsraten gemeint: 1953 war der Preisindex um 1,8 Prozentpunkte zurückgegangen – auch das ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der bundesrepublikanischen Volkswirtschaft. Anschließend stieg er 1954 um 0,2 Prozent, ein Jahr darauf um 1,6 und 1956 gar um 2,5 Prozentpunkte. 5Zwanzig Jahre später würde man solche Steigerungsraten herbeisehnen, über die Ängste der Wirtschaftsfachleute in den Fünfzigerjahren nur milde lächeln, aber damals wirkten sie wie Alarmsignale. Die Mentalität wurde durch andere Erfahrungen bestimmt. Nicht nur Konrad Adenauer und Ludwig Erhard wussten noch um die Schrecken der großen Inflation von 1922/23. Auch der Präsident des Direktoriums der Bank deutscher Länder 6, Wilhelm Vocke, hatte diese Zeit nicht vergessen, zumal er von 1919 bis 1939 Direktoriumsmitglied der Deutschen Reichsbank gewesen war.
Читать дальше