Stolzer Minister! Ludwig und Luise Erhard auf der Terrasse von Schloss Augustusburg in Brühl im Herbst 1949 beim Staatsempfang des Bundespräsidenten Heuss für das neue Kabinett .
Schröder nennt vier Kandidaten, die sich im Ernstfall auch ohne den Segen des »Alten« berechtigte Hoffnungen machen durften, von der Union auf den Schild gehoben zu werden: Finanzminister Fritz Schäffer, dem die CSU-Abgeordneten als einflussreiche Hausmacht zur Verfügung stünden; Karl Arnold, den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, einen Mann des linken Parteiflügels; schließlich den vermittelnd wirkenden, 1955 gerade zum Außenminister ernannten früheren Fraktionsvorsitzenden Heinrich von Brentano, dem Schröder wegen seiner erwiesenen integrativen Fähigkeiten die besten Chancen einräumt; sowie den »vitalen und populären« Ludwig Erhard, »von dem man allerdings bis zum heutigen Tage den Eindruck hatte, dass er den politischen Fragen jenseits der Wirtschaftspolitik sich bewusst fernhielt«. 33
Nach Schröders Artikel ließ sich die Tabuisierung nicht länger durchhalten. 34Breite Erörterungen der Nachfolgefrage in anderen Blättern folgten. Die New York Times meldete sogar, Fritz Schäffer sei von der Unionsspitze zum Nachfolger gekürt worden; der Kanzler habe allerdings bestritten, ihm diese Entscheidung bereits schriftlich mitgeteilt zu haben. 35Die dominante Position Adenauers wurde mit jedem Tag seiner Abwesenheit stärker infrage gestellt.
Natürlich suchte dieser einer Schwächung seiner Machtposition vorzubauen, so gut das vom Krankenbett aus möglich war. Fast täglich besprach er die Regierungsgeschäfte mit Hans Globke, dem ob seines Kommentars der NS-Rassengesetze umstrittenen und daher dem Kanzler wegen dessen Rückendeckung besonders loyal ergebenen Staatssekretär, gab Direktiven und Handlungsanweisungen – und mied den Kontakt mit seinem Vizekanzler, mit Franz Blücher von der FDP. 36
Die als Koalitionspartner ohnedies wankelmütigen Freien Demokraten sollten trotz seiner Malaise keinesfalls eine Vergrößerung ihres Einflussbereiches erleben. Darin wurde Adenauer übrigens durch die Minister von CDU und CSU bestärkt, die eigens die Bildung eines Kabinettsrats in Erwägung gezogen hatten, um den Vizekanzlerposten eben nicht zu wichtig werden zu lassen. 37Verfassungsrechtliche Bedenken, besonders jedoch die zunehmende Besserung des Gesundheitszustandes des bettlägerigen Kanzlers verhinderten letztlich eine Verwirklichung. Derartige Gedankenspiele bewiesen indes, welch zentrale Rolle die körperliche Verfassung Adenauers für die Stabilität der Regierung spielte, wie alles auf seine Person zugeschnitten war.
Der Publizist Fritz René Allemann nahm denn auch die innenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik im Jahr 1955 zum Anlass für eine umfassende, hellsichtige Standortbestimmung, die er im November in der Zeitschrift Der Monat veröffentlichte und in ihren Grundzügen in seinem berühmten Buch Bonn ist nicht Weimar ein Jahr später erneut aufgriff. »Was kommt nach Adenauer?«, fragte er damals. Nicht die Person des Nachfolgers sei entscheidend, sondern die Auswirkungen, die ein Ausfall des Bundeskanzlers für die Verfassungsrealität der jungen Republik haben würden. Ein hilfreicher Gedanke. Die bestimmenden Elemente der Kanzlerdemokratie traten so in Umrissen hervor – sie herauszuarbeiten, bemühte sich Allemann als einer der ersten Kommentatoren. 38Sicher, die Nachfolgefrage stellte er an den Anfang seiner Überlegungen. Dabei gewann für ihn zwangsläufig die Persönlichkeitsstruktur des ersten Kanzlers der Republik eine besondere Bedeutung:
»Die ihn kennen, sind überzeugt, daß er nie anders, denn unter unabweisbarem Zwang das Steuer aus der Hand legen werde. Sie wissen auch etwas anderes: daß er keinerlei Neigung bezeugt, von sich aus einen Anwärter auszusuchen oder auch nur einem von ihnen seine besondere Gunst zuzuwenden … Man kann sich vorstellen, daß es dem alten Herren, der ein tüchtiger Menschenverächter ist, etwas wie spitzbübische Freude bereiten mag, mit sarkastischem Amüsement dem Spiel der entfesselten und doch aufgestauten Begehrlichkeiten zuzuschauen … Wenn er vor etlicher Zeit … andeutete, er gedenke seinen gegenwärtigen Posten durchaus noch weitere sechs Jahre zu versehen, bis 1961 also und ans Ende des dritten Bundestages, so ist das möglicherweise nur als kleines diabolisches Späßchen gemeint – aber eines, hinter dem doch auch ein Zipfelchen oder gar ein großer Zipfel Ernst hervorguckt.« 39
Allemann erinnerte an das legendäre nächtliche Gespräch, das Adenauer am 28. September 1954 während der Londoner Konferenz – einer wichtigen Station auf dem Weg zur Rückgewinnung der 1945 verlorenen Souveränität – mit Luxemburgs Ministerpräsident Joseph Bech und dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak im noblen Hotel Claridge’s geführt hatte und dessen Ohrenzeuge zufällig der Journalist Lothar Ruehl geworden war, der es später auszugsweise im Spiegel wiedergab. »Er sprach nicht von seinem Tode. Er war mit seinen Gedanken jenseits dieses Einschnitts. Er sprach, leidenschaftlich erfüllt von der Sorge eines Mannes, der weiß, daß ihm die Zeit davonläuft«, notierte sich Ruehl. Und er hielt Adenauers Mahnung fest: »Nutzen Sie die Zeit, solange ich noch lebe, denn wenn ich nicht mehr da bin, ist es zu spät – mein Gott, ich weiß nicht, was meine Nachfolger tun werden, wenn sie sich selbst überlassen sind; wenn sie nicht in fest vorgezeichneten Bahnen gehen müssen, wenn sie nicht an Europa gebunden sind.« 40
Wichtige, die Mentalität Adenauers kennzeichnende Sätze. Der Alte Herr setzte sich offenbar schon frühzeitig mit der Nachfolgeproblematik auseinander, wobei ihn dabei die Angst bewegte, nach ihm könnten andere, in seinen Augen verantwortungslose, wankelmütige Politiker die westdeutsche Bevölkerung dazu bringen, die mühsam erreichte Einbindung in den westlichen Bündnisblock gegen unsichere, gefährliche nationale Verlockungen einzutauschen, sich auf eine verhängnisvolle Schaukelpolitik einzulassen. 41Seine Schlussfolgerung? Die Betonung der eigenen Unersetzlichkeit, wie Allemann resümiert.
Aber nicht allein deshalb war die Forderung, einen »Kronprinzen« zu küren, für Adenauer ohne Wert. Er erkannte wohl, dass seine Autorität nicht vererbbar war. Die Fraktion, deren Votum für die Nominierung eines Nachfolgers im Kanzleramt ausschlaggebend sein würde, konnte es im Gegenteil, so Allemann, als Eingriff in ihre originären Rechte empfinden, wenn ihr Adenauer einen Nachfolgekandidaten aufzuzwingen versucht hätte, und sich allein aus diesem Grund gegen ihn entscheiden. Für seine Funktion als Parteivorsitzender galt ein ähnlicher Zusammenhang – auch hier ließ sich nun einmal eine seiner bedeutendsten Fähigkeiten, seine Integrationskraft, auf niemand sonst übertragen. Er allein hielt lange eine tief heterogene, schwer zu steuernde Partei zusammen, demonstrierte überdies in seinen beiden »Rollen«, dass »Demokratie und Autorität einander nicht ausschließen«. 42Eine für die Deutschen wichtige, für die rasche Stabilisierung des demokratischen Gedankens in der Bundesrepublik gewiss mitentscheidende Erfahrung.
Aber zu welchem Preis erreichte Adenauer dies? Allemann glaubte, zum Preis der einseitigen Machtkonzentration, der »Atrophie der übrigen demokratischen Institutionen«. Das Kabinett arbeite nicht kollegial, das Parlament werde nur selten aktiv an der Gestaltung der Politik beteiligt, in den Parteien bleibe man unfähig, Führungsaufgaben zu übernehmen. Der Kanzler selbst kooperiere nur mit einem überschaubaren Kreis vertrauensvoll: mit Hans Globke, mit seinem Pressesprecher Felix von Eckardt, mit dem Kölner Bankier Pferdmenges und – so wird man hinzufügen müssen – mit Heinrich Krone. 43Der ehemalige Führer des Windthorstbundes, Generalsekretär der Zentrumspartei und Reichstagsabgeordnete Heinrich Krone, der nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Jakob Kaiser, Andreas Hermes, Ernst Lemmer und Robert Tillmanns zu den Gründern der Berliner CDU gehört hatte, entging Allemanns Aufmerksamkeit vermutlich, weil er das Amt des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden erst im Juni 1955 von Heinrich von Brentano übernehmen sollte und daher damals noch nicht als eine der Schlüsselfiguren in Adenauers Kanzlerdemokratie hervorgetreten war.
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