Es war eine mit Furcht durchsetzte Verehrung, die ihm viele derjenigen entgegenbrachten, die im Bundestag oder in der Regierung mit ihm intensiver zu tun bekamen – Ludwig Erhard stand hier keineswegs allein. Nicht umsonst wurde Adenauer bei Abwesenheit sowohl von einfachen Parteimitgliedern wie von Parlamentariern der Unionsfraktion schon bald furchtsam-respektvoll und zugleich familiär »Der Alte« genannt. Das blieb ihm schwerlich verborgen. Und er liebte es, mit seinem hohen Alter, der – im Vergleich dazu – so erstaunlichen körperlichen und geistigen Vitalität und Leistungsfähigkeit zu kokettieren, andererseits aber auch Jüngere unter Hinweis auf eben dieses Alter zu disziplinieren. Als etwa 1953 Bruno Heck Bonn verlassen und sein Amt als CDU-Bundesgeschäftsführer aufgeben wollte, bemerkte der mittlerweile 78-jährige Adenauer ungerührt, »von ihm erwarte man, dass er in seinem Alter seine Pflicht tue, und ich [Heck] als junger Mann wolle davonlaufen«. 21Heck, gerade 36 Jahre alt, kehrte auf seinen Posten zurück.
Der große Wahlerfolg 1953, bei dem die CDU/CSU unter Adenauers Führung, unterstützt von Ludwig Erhard, 45,2 Prozent der Stimmen erreicht und mit 243 von 497 Mandaten die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt hatte, ließ dann natürlich vorerst alle Kritiker verstummen, die der Meinung gewesen waren, mit diesem alten Kanzler hätte man keine reelle Chance auf einen Sieg gehabt. 22Nicht dass Adenauer mit einem Schlage besonders populär geworden wäre – noch im November 1953 nannten auf die Frage eines Meinungsforschungsinstituts, wer denn »am meisten für Deutschland geleistet« habe, nur 9 Prozent der Befragten seinen Namen, ebenso viele entschieden sich damals noch für Adolf Hitler 23–, aber seine Stellung hatte sich doch erheblich gefestigt.
Tatsächlich markiert diese Wahl, bei der die Fundamentalopposition der SPD gegen Westbindung und Marktwirtschaft natürlich ebenso eine entscheidende Rolle gespielt hatte wie der unterdrückte Volksaufstand in der sowjetisch besetzten DDR, den eigentlichen Beginn der Adenauer’schen Kanzlerdemokratie. Hans-Peter Schwarz hat ihr Ergebnis im Hinblick auf die Position des Bundeskanzlers wie folgt zusammengefasst: »Von jetzt an wagte man nur noch hinter vorgehaltener Hand die Frage zu stellen, wann ein Kanzlerwechsel aus Altersgründen nötig werden könne. Richtungskämpfe mit Stoßrichtung auf Adenauer waren nun für lange Zeit ausgeschlossen.« 24
Adenauer saß nach diesem sensationellen, weil unerwarteten Triumph für die nächsten Jahre fest im Sattel. Von den beiden Pferden, die er als Partei- und Regierungschef fortwährend zu lenken hatte, bockte zwischen 1953 und 1956 keines, weder das Partei- noch das Regierungspferd. Straff hielt Adenauer die Zügel in der Hand. Und – um im hippologischen Bild zu bleiben – die Reitknechte und Stallburschen, die sich untereinander versicherten, es sei natürlich völlig unmöglich, 1957 einem dann 81 Jahre alten Kanzler erneut die Steigbügel zu halten, waren bis auf weiteres zum Abwarten verurteilt. 25
Adenauer bemühte sich übrigens geschickt, durch die Verjüngung seines Kabinetts bei der Regierungsbildung 1953 allen Kritikern, die vor einer Greisenherrschaft warnten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. So wurde etwa der 70 Jahre alte Innenminister Robert Lehr gegen den dreißig Jahre jüngeren Gerhard Schröder ausgewechselt, und der gerade 38-jährige, besonders dynamische Franz Josef Strauß zog als Minister für besondere Aufgaben in die Kabinettsrunde ein – natürlich auch, um seinem ungestümen Ehrgeiz besser Zügel anlegen zu können. 26Auf diese Weise erreichte der Kanzler sein Ziel, die interne Debatte über seine Nachfolge flaute ab, verlor an Bedeutung.
Zwei Jahre lang ließ sich dieser Zustand aufrechterhalten – erst im Herbst des Jahres 1955 wurde die Nachfolgefrage dann wieder aufgegriffen: von der Presse. Dies vermochte Adenauer nicht zu verhindern. Vorgänge in England und seine eigene körperliche Verfassung wirkten dabei als auslösende Faktoren. Im April 1955 war in Großbritannien der 81 Jahre alte Winston Churchill als Premierminister zurückgetreten. Er musste sich nach einem Schlaganfall schweren Herzens dem massiven Druck seiner konservativen Kabinettskollegen beugen. Als diese mit einem kollektiven Rücktritt drohten, räumte er endlich seinen Platz für den bisherigen Außenminister Anthony Eden. Dieses Geschehen in Verbindung mit der Tatsache, dass Eden, bis dahin ein sehr erfolgreicher zweiter Mann, sich im neuen Amt schnell als ziemlich unfähig erwies, mag wohl ein »Menetekel an der Wand des Bundeskanzleramtes« gewesen sein. 27Eine Überrumpelungsaktion nach englischem Muster wollte Adenauer gewiss ebenso verhindern wie den Aufstieg eines ungeeigneten Nachfolgers.
Nun begannen aber deutsche Journalisten bohrend nach den »viele[n] Edens in Bonn?« zu fragen. 28Die Spekulationen verstärkten sich, als der Kanzler im Herbst 1955 an einer Lungenentzündung schwer erkrankte – kurz nach der Rückkehr von seinem berühmten Moskau-Besuch, der mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion sowie dem russischen Versprechen geendet hatte, die letzten 11 000 deutschen Kriegsgefangenen nach über zehn Jahren freizulassen. 29Vom 16. September 1955 bis in den November hinein konnte Adenauer, dessen Umfragewerte nach der Heimholung der Gefangenen auf zuvor nie gekannte Höhen angestiegen waren, nicht im Palais Schaumburg erscheinen. Beinahe zwei bittere Monate lang war er in Rhöndorf ans Bett gefesselt und musste weitgehend hilflos zusehen, wie man sich von verschiedenster Seite den Kopf darüber zerbrach, was denn nun werden sollte, wenn er nicht mehr zu Kräften kommen würde.
In einem gründlich recherchierten Bericht befasste sich beispielsweise am 26. Oktober der Journalist Georg Schröder in der Welt mit der Nachfolgefrage, mit dem, was er »Das große Fragezeichen« in der Bonner Politik nannte. 30Schröder unterhielt zum Kanzler und zu dessen engstem Vertrauten Hans Globke, dem Staatssekretär im Kanzleramt, sowie zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Heinrich Krone, gute Verbindungen. Wie sich herausstellte, hatte er, wenn auch zeitversetzt, in Hildesheim dieselbe Jesuitenschule wie Krone besucht. Im Berlin der Weimarer Zeit hatten sie beide, wenn auch in unterschiedlichen Lagern – Schröder als Anhänger von Gottfried Treviranus, dem Mitbegründer der Volkskonservativen Vereinigung 31, Krone als Reichstagsabgeordneter des Zentrums –, den Zerfall der ersten Republik aus nächster Nähe miterlebt. Nach Gründung der Bundesrepublik war Schröder bald ein ständiger Teilnehmer an den sogenannten »Kanzlertees«, an jenen Informations- und Hintergrundgesprächen, die Adenauer mit einem mehr oder weniger handverlesenen, exklusiven Kreis von Journalisten führte, wurde von diesem bisweilen aber auch allein zu einer Unterhaltung gebeten. Zugleich galt Schröder, der beispielsweise mit Ludger Westrick, dem Staatssekretär Erhards im Wirtschaftsministerium, eng befreundet war, nicht als reiner »Adenauer-Mann«, wie etwa später der Bonner Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung , Fred Luchsinger.
Wie ein »Alpdruck«, so stellte Schröder fest, laste die Nachfolgefrage nach dem überraschenden Tod von Bundestagspräsident Hermann Ehlers wenige Wochen nach seinem fünfzigsten Geburtstag am 29. Oktober 1954 auf den verantwortlichen Männern der CDU/CSU. »Aus dem Führungsgremium heraus legte man Adenauer nahe, in einer Aussprache im kleinen Kreis die Frage des Kronprinzen zu klären. Der Bundeskanzler ist auf diese Anregung nicht eingegangen. Und das Führungsgremium sagte sich, daß eine derartige Besprechung ohne Teilnahme Adenauers den Kanzler verletzen würde. So ist nichts geschehen.« 32Die Motive für Adenauers Weigerung werden nicht erörtert – man wird sie jedoch nicht lange suchen müssen. Wenn der Kanzler sich auf einen bestimmten »präsumtiven« Nachfolger festlegte oder besser: festlegen ließ, hätte das eventuell wie eine freiwillige Selbstbegrenzung seiner Amtszeit aufgefasst werden können und seine Autorität untergraben. Das wollte er wohl um jeden Preis vermeiden.
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